Wozu leben wir? Worin könnte der Sinn unseres Lebens bestehen? Hängt von Antworten auf diese großen Fragen vielleicht unser eigenes Befinden und letztlich auch die Zukunft unserer Art ab?
Eigenartigerweise habe ich zu dieser Thematik bisher wenig sortierte Gedanken gefunden. Die Frage nach dem Sinn war einer der Gründe, warum ich Psychologie studiert hatte – und im gesamten Studium kam das Wort „Sinn“ in der hier gemeinten Bedeutung nicht vor. Können Sie sich meine Enttäuschung vorstellen? Zum Glück lernte ich später Frau und Herrn Tausch kennen, zwei Psychologen aus Hamburg, die sich mit diesen Fragen befasst hatten (Tausch, 2006). Tatjana Schnell, eine Psychologin in Innsbruck, forscht mittlerweile intensiv zu diesen Fragen. Und ich fand die Arbeiten von Viktor Frankl. Er war Begründer der Theorie, dass Menschen einen Lebenssinn brauchen, wenn sie sich im Leben wohl fühlen wollen (1992).
Vielleicht überlegen wir kurz, warum Nachdenken und Diskutieren über Sinnfragen zur Zeit nicht recht modern scheint. Einer der wenigen Philosophen, der dazu aus meiner Sicht plausible Überlegungen vorgetragen hat, war Albert Schweitzer. Er schrieb im Jahr 1899: „Wir stehen in einer Zeit völliger philosophischer Unbildung. … Wissenschaft ist Macht; dieses Wort scheint die Zeit zu beherrschen. Man vergißt aber, beizusetzen, daß Wissenschaft nicht Bildung ist. … Bildung besteht darin, daß das gesamte Gebiet menschlichen Wissens in seinen Grundzügen erfaßt wird, sich zu einer einheitlichen Weltanschauung ausbildet, welche dem Einzelnen seine Stellung zu der ihn umgebenden Welt zu Bewußtsein bringt und sein Urteil und Handeln bestimmt.“ (Schweitzer, 1991).
Die Beschäftigung mit den in Schweitzers Lebenszeit (1875-1965) entstandenen Errungenschaften von Wissenschaft und Technik hat unsere Vorfahren offenbar in derartige Begeisterung versetzt und in einer Weise ausgefüllt, dass viele Menschen jener Zeit, die Generation unserer Urgroßeltern, das Nachdenken über die Grundfragen der Philosophie für nicht weiterführend hielten. Woher kommen wir? Wozu leben wir? Wohin gehen wir? Warum sollte man noch großartig über solche Fragen philosophieren, wenn man auch ohne Nachdenken über solche Spitzfindigkeiten eine aufregende neue Welt erleben durfte.
Es war möglich geworden, in einer motorisierten Kutsche ohne Anstrengung übers Land fahren, sich wie ein Vogel in die Lüfte zu erheben und tief in die Ozeane zu tauchen, die Wohnräume ohne großen Aufwand zu beleuchten und zu beheizen. Über „Fernsprecher“ konnte man selbst mit Menschen aus anderen Städten oder Ländern sprechen. Das waren Träume, die unsere Vorfahren tausende Generationen lang ersehnt, aber als nicht realisierbare Zauberei eingeschätzt hatten.
Und viele solcher Träume sind in den etwa drei Generationen zwischen 1800 und 1900 wahr geworden. Basierend auf einer Wissenschaft und Technik, welche sich von der Religion, von Mythen und von philosophisch-ethischen Reflexionen ziemlich konsequent getrennt hatte und scheinbar deshalb so erfolgreich war.
Philosophieren war in Verruf geraten und galt als brotlose, vielleicht sinnlose Kunst. Die letzten Philosophen, über deren große Gedankenentwürfe zum Sinn und Zusammenhang der Welt die Zeitgenossen, zumindest die Intellektuellen noch in großer Breite diskutiert hatten, waren neben Albert Schweitzer Personen wie Hegel, Kant, Schopenhauer oder Nietsche, alles Personen, die vor 1900 gelebt haben.
Und wie ist es heute, über hundert Jahre nach Schweitzers Einschätzung? Glauben Sie, seine Einschätzung trifft heute noch zu? Sicherlich gab es in allen Zeiten Menschen, die sich intensiv mit Fragen dieser Art beschäftigen – aber wie werden solche Reflexionen in einer Gesellschaft unterstützt, herausgefordert oder honoriert? Man kann das vielleicht daran ablesen, ob und inwieweit sich vom Fachgebiet her zuständige Wissenschaftler wie Psychologen mit solchen Fragen beschäftigen. In diesem Personenkreis ist es ist nach meiner Kenntnis nur eine winzige Minorität, die Sinnfragen thematisiert.
Einen spannenden Befund zeigt eine langjährige Befragung junger Menschen in den USA (Sax et al., 1999). In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurden regelmäßig Studienanfänger in den USA befragt, warum sie studieren. Gaben in den 1960er Jahren noch 80% dieser jungen Menschen an, dass ihnen die Entwicklung einer sinnvollen Lebensphilosophie sehr wichtig ist, waren es am Ende des Jahrhunderts noch 42 %. Bei der Aussage „ich studiere, um sehr wohlhabend zu werden“ stieg die Prozentzahl der Personen, denen dies ein sehr wichtiger Grund ist, im gleichen Zeitraum von 45 auf 74 Prozent. Dieses Muster lässt sich mit Trends, die in den vorigen Kapiteln angesprochen wurden, vereinbaren: Eine zunehmende Orientierung an Geld und Konsum mehrt möglicherweise den materiellen Wohlstand von Menschen, mindert aber den Zeitwohlstand. Sprich: Die verbleibende Zeit, wenn man Arbeitszeit und mit dem Konsum verbundene Zeit abzieht, wird weniger. Dieser Zeitwohlstand oder einfacher gesagt, eine gewisse Muße, ist aber Voraussetzung, um sich mit Sinnfragen zu beschäftigen.
So kann es nicht verwundern, wenn die Lebensplanung vieler Menschen heute auf Karriere, Familie, Haus, Reisen und den Besitz technischer Geräte fokussiert ist. Diese Lebensinhalte werden in unserer Gesellschaft kultiviert. Wir werden wieder und wieder eingeladen und ermuntert, diese Dinge zu erlangen.
Vielleicht liegt der Sinn des Lebens in genau diesen Dingen? Dann brauchte man sich nicht weiter den Kopf über Sinnfragen zu zerbrechen. Und man hätte auch gleich eine gute Begründung dafür, warum sich heute nicht allzu viele Menschen mit diesen Fragen befassen: Weil die Antwort auf der Hand liegt, also trivial ist: Der Sinn des Lebens besteht darin, das eigene Leben in komfortabler Weise zu genießen.
Erinnern wir uns an die Analogie mit dem Auge: Das Auge ist in der Lage, sich ein Leben lang im Spiegel selbst betrachten. Das ist möglich - aber nicht sinnvoll. Ein Auge macht Sinn im Rahmen komplexer Strukturen wie dem Körper eines Lebewesens. Ebenso kann ein Mensch seine Lebenszeit gut mit Karrierebestrebungen, Familienangelegenheiten, dem Bauen und Pflegen eines Hauses und Gartens, mit Reisen und der Nutzung toller Technik ausfüllen. Das ist möglich, und viele Menschen haben den Fokus ihres Lebens vielleicht in den vergangenen Jahrzehnten auf diese Dinge beschränkt. Aber ist eine solche Fokussierung sinnvoll?
Viktor Frankl hat behauptet, wenn Menschen den Sinn ihres Lebens nicht finden - weil sie ihn gar nicht, oder aber an einer falschen Stelle suchen - werden sie krank (1990). Albert Schweitzer hat es andersherum formuliert: „Und der Weg zu innerem Glücklichsein? Es gibt keinen anderen, als dass wir aus dem alltäglichen Überlegen heraustreten und uns auf das Woher und Wohin unseres Daseins besinnen. Wie finde ich mich mit mir selbst zurecht? Wie begreife ich mein Sein in dem unendlichen Sein?“ (1999).
Ganz schön kühn, diese Behauptungen, mögen Sie denken. Doch wenn Sie an die Zunahme verschiedener psychischer und auch körperlicher Störungen in unserer Gesellschaft denken (Csikszentmihalyi, 1999), sich zum Beispiel noch einmal die Zahlen Depressiver in unserem Land vergegenwärtigen: Welche Erklärung fällt Ihnen dafür ein? Wie passt das zusammen? Wir haben immer mehr und immer aufregendere technische Möglichkeiten, eine bereits schier endlose und immer noch zunehmende Vielfalt an Nahrungs- und Genussmitteln sowie Freizeitmöglichkeiten. Aber die Zahl glücklicher Menschen nimmt nicht zu, während bestimmte Störungsbilder häufiger werden.
Könnte es sein, dass das Abbild, das wir Menschen uns von unserem eigenen Wesen bislang gemacht haben, zu einfach ist? Dass wir mehr Potentiale in uns tragen, als viele möglicherweise verflachten Menschenbilder des 20. Jahrhunderts uns bislang spiegeln wollen? Nach deren Annahmen sind wir Menschen von Trieben und Reflexen, von unserem genetischen Erbgut und den Umweltbedingungen determinierte Wesen, die nicht mehr anstreben können, als zu überleben und ein eigenes genussreiches Leben zu führen (Frankl, 1990; 1979, Walach & Walach, 1983). Halten Sie es für denkbar, dass wir Menschen darüber hinaus weitere Potentiale in uns tragen, etwa uns Sinnfragen zu stellen – und dass die Entfaltung dieser Potentiale unserem Wohlbefinden dient? Es liegen bereits psychologische Befunde vor, die einen solchen Zusammenhang stützen (Becker, 1985, Nindl et al., 2006, Schnell, 2010, Tausch, 2006).
Lassen Sie uns also schauen, ob wir mit Frankls Annahme weiterkommen, es könnte einen Sinn im Leben geben. Einen Sinn, der auch außerhalb des Lebensraumes und Zeitfensters des individuellen Lebens liegen kann: „Ganz ist der Mensch eigentlich nur dort, wo er ganz aufgeht in einer Sache, ganz hingegeben ist an eine andere Person. Und ganz er selbst wird er, wo er sich selbst - übersieht und vergißt.“ (Frankl, 1990).
Wie könnte man einen solchen Sinn finden? Frankl hat uns dazu eine Idee hinterlassen – die „kopernikanische Wendung“ der Frage nach dem Sinn des Lebens (1990): Hören Sie auf, zu fragen, was Sie vom Leben erwarten können. Beginnen Sie zu fragen, was das Leben von Ihnen erwartet.
Probieren Sie das einmal, und schauen Sie, was Sie da finden. Frankl selbst hat sich diese Frage in einer Lebenssituation gestellt, die für die meisten von uns wohl zum Schlimmsten gehört, was man sich vorstellen kann: Er war in einem Konzentrationslager inhaftiert. Selbst dort, unter diesen furchtbaren Umständen, hat er einen Lebenssinn für sich finden können. Dieser Sinn bestand darin, seine Mitinsassen davon abzuhalten, sich das Leben zu nehmen, von dem sie nichts mehr erwarteten. Viele dieser Menschen waren Frankl noch über Jahrzehnte nach Kriegsende dankbar für die Gespräche in den Lagern.
Ein großer Vorzug entsteht für Personen, die nach Frankls Vorschlag dem Sinn ihres Lebens nachspüren. Sie gewinnen ein eigenes Orientierungssystem für diejenigen Dinge, die sie für wichtig erachten wollen. Sie sind dann weniger anfällig für die Suggestionen, die uns in unserer Kultur Tag für Tag Vorschläge unterbreiten, wie wir unser Leben noch verbessern können – durch den Erwerb von Prestige, von neuen Autos und IT-Geräten, durch noch bessere Waschmittel oder Anti-Aging Kosmetik.
Für mich hat sich Lebenssinn unter anderem darin gefunden, aus meiner Sicht irrige Annahmen über die Wege zum Gedeihen unserer Spezies als nicht zielführend zu begründen. Ihren Status als ersetzbare und zu ersetzende Annahmen offenzulegen, und auf besser tauglichen Annahmen aufbauend Alternativen zu ersinnen und in die Welt zu bringen.
Sie werden den Sinn Ihres Lebens vermutlich an anderen Stellen des Abenteuers der Gestaltung der Welt von morgen sehen. Und das ist gut so, denn wir brauchen Zugänge zu dieser Welt von vielen unterschiedlichen Seiten aus, in Dörfern und Städten, in Schulen, Universitäten, in der Wirtschaft und Landwirtschaft, in der Politik, in Organisationen und Vereinen. Wir brauchen Visionäre, aber auch Leute, die richtig gut rechnen können, die handwerklich oder im Gartenbau begabt sind, die Musik machen, dichten oder schauspielern.
Falls Sie bislang über die Sinnfrage noch nicht viel nachgedacht haben: Gehen Sie auf die Suche. Es scheint mir das größte Abenteuer zu sein, auf das ein Mensch sich einlassen kann. Die Sinn-Wahrnehmung, so Frankl, ist die Entdeckung der Möglichkeit, die Wirklichkeit zu verändern.
Und vielleicht hat ja Albert Schweitzer recht, wenn er uns in Aussicht stellt, die in den ersten Kapiteln dieses Buches thematisierten Denkfallen hinter sich lassend: „Indem ich mich in den Dienst des Lebendigen stelle, gelange ich zu einem sinnvollen, auf die Welt gerichteten Tun. … Als tätiges Wesen kommt der Mensch in ein geistiges Verhältnis zur Welt dadurch, dass er sein Leben nicht für sich lebt, sondern sich mit allem Leben, das in seinen Bereich kommt, eins weiß, dessen Schicksale in sich erlebt, ihm, soviel er immer kann, Hilfe bringt und solche durch ihn vollbrachte Förderung und Errettung von Leben als das tiefste Glück, dessen er teilhaftig werden kann, empfindet“ (1990).
Herausfinden, ob das stimmt, kann man, indem man es probiert.
Die genannten Quellen finden Sie hier sowie im abschließenden Beitrag dieser Folge.
\Dieser Beitrag wurde mit dem Pareto-Client geschrieben. **