Wir Menschen seien Achse und Spitze der Evolution. Der Beitrag prüft die Plausibilität dieser Behauptung und stellt psychologische Gewinne dar, welche bei Überwindung dieses Mythos und einer Orientierung an der Ehrfurcht vor allem Leben erwartet werden dürfen.
Die aus der Theologie bekannte Schöpfungsgeschichte des Menschen und auch die wissenschaftliche Perspektive zur Entstehung unserer Art nach Darwin haben eine Gemeinsamkeit: Sie legen die Annahme nahe, wir Menschen hätten als Gattung, als Spezies „Homo Sapiens“, innerhalb der lebenden Arten unserer Erde eine Sonderstellung inne und seien wegen besonderer Fähigkeiten das höchstentwickelte Lebewesen, das heute den Erdball bevölkert (Amery, 1990). Der Jesuit und Paläontologe Pierre Teilhard de Chardin sah uns Menschen als Achse und Spitze der Entwicklung, als Zentrum der Welt (de Chardin, 1981, S. 18-23). In der Tat, wir weisen einige Errungenschaften auf, die uns von anderen Arten her unbekannt sind, etwa die Schriftsprache zu verwenden, in der dieses Buch verfasst ist.
Im Zusammenhang mit dieser Annahme hat sich offenkundig im Laufe der Geschichte die Überzeugung herausgebildet, wir Menschen dürften uns ohne Rechenschafts- oder Begründungsverpflichtung aller sonstigen lebenden oder nicht lebenden Dinge bedienen, welche uns umgeben und die uns nützlich scheinen. So haben unsere Vorfahren große Teile ihres Lebensraumes entwaldet, um mit dem Holz Hütten und Schiffe zu bauen sowie Ackerfläche zu gewinnen. Sie haben einige Säugetierarten und zahllose weitere Pflanzen- und Tierarten ausgelöscht. Heute wird dieses Grundmuster mit weitaus höherer Wirksamkeit fortgesetzt und auf die Spitze getrieben, indem ganze Ökosysteme und Kontinente massiv verändert werden: Denken Sie zum Beispiel an die geplante Rohstoffgewinnung in den letzten ursprünglichen Gebieten der Erde wie in Alaska oder der Arktis oder an die Folgen von Landnutzungsänderungen, bei denen Wälder und Moore zu Weiden und Äckern umfunktioniert werden.
All dies geschah und geschieht ohne viel Aufhebens um die Frage, ob die Annahme einer Sonderstellung unserer Art und die Ableitung besonderer Rechte dem Ziel dient, langfristig unsere Lebensbedingungen zu erhalten oder zu fördern.
Allerdings lässt sich eine Reihe von Überlegungen mit solchen besonderen Rechten unserer Art schwer vereinbaren. Zunächst gibt es ein recht einfaches Argument, welches der gesunde Menschenverstand hergibt: Wer den Ast, auf dem er sitzt, absägt, zeichnet sich nicht durch sonderliche Klugheit aus. Und wenn in den biosphärischen Bezügen zwischen den zahllosen Lebewesen ein wundervolles Fließgleichgewicht herrscht, wie es der Systemtheoretiker Gregory Bateson (1984) so schön beschreibt, dann stellt sich die Frage: Warum stören wir Menschen seit einigen Jahrhunderten - praktisch mit einem Brecheisen - diese Balance, indem wir Arten auslöschen, neue Arten manipulieren, Boden, Grundwasser und Berghänge zum Teil unumkehrbar verändern? Bateson erklärt dies damit, dass wir Menschen bislang keinen Sinn für die Einheit der Biosphäre entwickeln konnten. Wenn wir aber ein lebenswertes Leben auf unserem Planeten erhalten und bereichern wollen, ein Leben mit Schmetterlingen, Babylachen und Blumenwiesen, sollten wir nach den Grenzen der Systemveränderungen fragen, innerhalb derer ein solches Leben möglich ist.
Elisabeth Sahtouris, eine Biologin, hat die Sonderstellung des Menschen in der Familie der Arten auf ähnliche Weise in Frage gestellt (1993). Nach ihrem Dafürhalten erweist sich der Wert einer Art im Lauf der Evolution nicht durch irgendeine abstrakte Reflexionsfähigkeit oder Intelligenz, sondern dadurch, dass eine Spezies ihre Lebensgrundlagen und das Netz des Lebens erhält und nicht zerstört. Dass eine Art somit lange Zeit geschätztes Familienmitglied im Kreis der Arten ist. Nach diesem Kriterium sind beispielsweise Bakterien möglicherweise als höher und wertvoller für die Evolution einzuschätzen als Menschen. Wieso? Da es Bakterien schon gab, bevor wir Menschen in die Evolution eintraten - und weil Bakterien uns aller Voraussicht nach überleben würden. „Wie es den Bakterien schon viel länger geläufig sein dürfte, führt aber der maßlose Verbrauch der Wirtsressourcen durch den Eindringling über kurz oder lang zum Tod des Wirts und liegt deshalb nicht im langfristigen Interesse“ (Sahtouris, 1993, S. 197).
Ein anderer Gedankengang bezieht sich auf psychologische Zusammenhänge. Den meisten Menschen, die ich kenne, ist Mitgefühl eine wohlbekannte Emotion. Eine Taube mit verkrüppeltem Fuß, ein krankes Haustier, das Schmerzen zeigt, löst Mit-Leiden aus und ein Bedürfnis, zu helfen. Dieses Mitgefühl entsteht vor allem in Situationen, in denen das Leid anderer Kreaturen direkt erfahrbar ist. Nun wissen oder ahnen zumindest die meisten Menschen, dass aufgrund unserer fleischbasierten Ernährungsgewohnheiten zahllosen Tieren - Schweinen, Rindern und Hühnern etwa - Gewalt geschieht. Nicht „nur“ beim Vorgang des Tötens, sondern auch in der begrenzten Lebensspanne der Tiere davor. Sicher hilft es uns auf kurze Sicht, diesen Gedanken beiseite zu drängen und uns mit sachlichen Argumenten („irgendwas muss ich ja essen“) zufriedenzustellen zu suchen. Vielleicht ist aber die Zeit reif, die Überlegungen hierzu einmal weiterzuführen. Auch deshalb, weil die meisten von uns ein Gewissen verspüren, welches die Freude an zwielichtigen Vergnügen ohnehin auf lange Sicht regelmäßig verleidet.
Zunächst können wir einräumen, dass wir Menschen als eine unter vielen Arten im Reigen des Lebens darauf angewiesen sind, ausreichende organische Nahrung zu uns zu nehmen. Diese lässt sich nur von anderen lebenden Mitgeschöpfen, Pflanzen wie Tieren, gewinnen. Doch wieviel ist genug? Welche Art von Nahrung benötigen wir für ein gesundes Leben? Wenn wir z.B. in großen Mengen Fleisch von Tieren essen, für die Haltung der Tiere Wälder abholzen und aufgrund von Fehlernährung krank werden, dann führt die Annahme der Sonderstellung des Menschen zu einer paradoxen Folge: Hier sind Leid und lebensfeindliche Prozesse bei allen beteiligten Lebewesen im Gang, die wir Menschen zu verantworten haben. An dieser Stelle können wir uns durchaus eine Sonderstellung zuschreiben, allerdings mit einer neuen ethischen Ausrichtung: Wenn wir uns aufgrund unserer Reflexionsfähigkeit im Umgang mit anderen Wesen verantwortlich zeigen möchten, wären wir dazu durchaus in der Lage.
„Ich bin Leben, das Leben will, inmitten von Leben, das Leben will.“ Albert Schweitzer hat diesen schönen und geraden Gedanken formuliert (1965, S. 133), der uns dabei helfen kann, eine gesunde Balance zwischen unseren Ansprüchen an die Welt und den Ansprüchen anderen Lebens auf unserer Erde zu finden. Schweitzer hat vor ca. 100 Jahren als erster Philosoph systematisch damit begonnen, den Wert menschlichen Lebens in Beziehung zum Wert allen anderen Lebens zu reflektieren. Mit seiner Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ hat er eine neue Grundlage für unser Wirken in der Welt vorgeschlagen (1923, 1925). Erich Fromm hat dann als erster Sozialwissenschaftler die Liebe zum Lebendigen als primäre und grundlegende Tendenz allen Lebens konzipiert (sog. „Biophilie“, Fromm 1964). Schweitzers Ethik ist auch die Basis der „Tiefenökologie (deep ecology)“, die Pioniere dieser neuen Haltung wie Joanna Macy (2003) oder Arne Naess (1997) als Lebenswerk mitbegründet haben.
Umweltethiker wie Manfred Gorke (1999) und Hermann Ott (Ott & Döring, 2005) untersetzen den Gedanken einer „Gleichberechtigung der Arten“, indem sie eine holistische Umweltethik formulieren. Darin haben wir Menschen die Rolle von einer unter vielen anderen Arten inne. In dieser Ethik wird die besondere Stellung von uns Menschen aufgrund unserer Reflexionsfähigkeit neu definiert: Wir haben nicht länger das Recht, die Natur ohne Begründung auszunutzen und für uns dingbar zu machen. Wir haben allerdings die Verpflichtung, als vielleicht einzige zur Reflexion begabte Wesen unsere Eingriffe in die uns umgebende Mitwelt zu begründen und unseren „Fußabdruck“ möglichst gering zu halten. Theodore Rozsak (1986) und Arne Naess (1997), zwei hervorragende Vordenker dieser neuen Sichtweise, sprechen von den Rechten des Planeten und der Biosphäre als Ganzes. Diese sollten wir in den Blick nehmen, wenn uns an einer hoffnungsvollen Balance mit den Mitgeschöpfen unserer Erde in der Welt von morgen gelegen ist.
Sollten Sie über diese Zusammenhänge bislang noch nicht intensiv nachgedacht haben, mögen Sie sich nun fragen: „Wie kann ich herausfinden, ob ich mich mit der Annahme anfreunden kann, ein reflexionsfähiges und damit verantwortliches Wesen in einem umfassenden Lebensnetz zu sein – und nicht zu einer erwählten Art mit Sonderrechten zu gehören?“
Schauen Sie sich einmal einen Film an, der das Leben und Sterben von Tieren zeigt, deren Fleisch in unseren Märkten weithin billig angeboten wird (z.B. „We feed the world“). Wenn Ihnen das zu bedrohlich ist, besuchen Sie im nächsten Urlaub einmal eine Sennerin, welche ihre Kühe mit der Hand milkt, oder einen Schäfer. Fragen Sie diese Personen, ob ihre Tiere fühlen und ob sie selbst etwas für die Tiere empfinden. Streicheln Sie eine Katze, die um Ihre Beine läuft. Besuchen Sie Bauernhöfe, auf denen man den Tieren Liebe und Respekt entgegenbringt. Spüren Sie in sich hinein, was Sie und diese anderen Wesen verbinden könnte. Und sollte der Wunsch entstehen, ein neues, anderes Verhältnis gegenüber anderen Lebewesen zu entwickeln: Sie sind nicht allein mit diesem Wunsch! Zwischen 70% und 90% aller Befragten in vielen Ländern teilen nach umfangreichen Fragebogenstudien die moralische Intuition, der Natur ein eigenes Lebensrecht zuzusprechen, unabhängig von menschlichen Ansprüchen. (Van den Born et al., 2001).
Seit dem Jahr 2000 gibt es die Erd-Charta Bewegung, eine der größten weltweiten Initiativen der vergangenen Jahrzehnte. In deren Paragraph 1 heißt es: „Achtung haben vor der Erde und dem Leben in seiner ganzen Vielfalt. Erkennen, dass alles, was ist, voneinander abhängig ist und alles, was lebt, einen Wert in sich hat, unabhängig von seinem Nutzwert für die Menschen.“ Schließen Sie sich an oder gründen Sie eine neue Ortsgruppe.
Mögen Sie Genaueres erfahren, wie es dazu kommen konnte, dass wir Menschen uns auf einen Sockel gestellt haben? Von dem aus wir dann die Welt „da unten“ betrachten? Wenn Sie sich für philosophische und geschichtliche Aspekte interessieren, lassen Sie sich einmal Erwin Schrödingers Überlegungen dazu durch den Kopf gehen (1983, S. 137): Er führt diese Fehlentwicklung auf den antiken Irrtum Demokrits zurück, die Atomlehre auf die Seele, die Psyche von Menschen anzuwenden. Dieser Irrtum hatte drei Konsequenzen: Zum einen die „schreckliche Folge“, dass menschliches Verhalten nun naturgesetzlich determiniert schien, was ethische Reflexionen hinsichtlich unseres Tuns schlicht überflüssig machte. Zum zweiten sind wir Menschen in die Lage gekommen, so Schrödinger, unsere Erfahrung der „Umwelt“ wunderbar systematisieren und uns damit die Welt nutzbar machen zu können. Dies hatte jedoch einen hohen Preis: Die dritte Konsequenz von Demokrits Irrtum bestand darin, dass sich unsere eigene Psyche nicht mit einfachen physikalischen Gesetzen begreifen lässt. Damit haben wir Menschen uns als „Zuschauer“ des Weltgeschehens definiert, die nur mit dem Körper, dem Leib der Welt zugehören. Und die über Dinge, welche unser eigenes Sein ausmachen - Liebe, Lust, Wehmut, Freude, Schmerz oder Sinnerleben - in ein „tödliches Schweigen“ verfallen sind. Für Physiker wie Schrödinger, welche die klassische Physik als vereinfachten Grenzfall eines viel komplexeren Geschehens erkannt haben, eine herbe Einsicht. In dem Abschnitt über Sinn im Leben kommen wir auf diese Fragen zurück.
Wenn Sie sich dafür interessieren, wie stark wir Menschen psychisch von der uns umgebenden Natur abhängen, lesen Sie die erstaunlichen wissenschaftlichen Befunde von Psychologen, die Terry Hartig zusammengetragen hat (1993, 2011). Dort findet man belegt, dass wir Menschen uns am liebsten Bilder mit Naturaufnahmen in die Wohnräume hängen. Dass wir uns in Wohnumgebungen, die von Natur umgeben sind, am wohlsten fühlen. Und sogar, dass Patienten, die aus ihrem Klinikraum in die Natur schauen, schneller gesund werden - verglichen mit Genesenden, welche auf eine Mauer schauen.
Es scheint viele gute Gründe zu geben, den wunderbaren Ast des Baumes der Schöpfung, auf dem wir sitzen, zu ehren, zu respektieren und zu pflegen.
Die genannten Quellen finden Sie hier sowie im abschließenden Beitrag dieser Folge.
\Dieser Beitrag wurde mit dem Pareto-Client geschrieben. **