Resonanz, Kohärenz, Emergenz

Resonanz ist der Anfangspunkt des Neuen. Doch einzelne Resonanzen können Zufall sein. Erst wenn sie sich verdichten, entsteht Kohärenz – ein stabiles Muster, ein Lied statt nur eines Tons. Und aus Kohärenz kann der Sprung geschehen: Emergenz. Wie Vögel, die einfachen Regeln folgen und plötzlich atemberaubende Formationen bilden. Doch Emergenz braucht Offenheit und Komplexität. Bubbles und Konformität erzeugen nur vergängliche Resonanz – sie ersticken das wirklich Neue.

“Resonanz”, was für ein geflügeltes Wort, ein Wort des Zeitgeistes. Und da ich diesen Begriff als inflationär erlebe – auch in meinem Sprachgebrauch – möchte ich meine Gedanken dazu weiter ausführen. Ich möchte hier keine neo-esoterische Sichtweise einzunehmen, sondern eine wissenschaftlich-analytische.

Was hat es also mit Resonanz auf sich?

Resonanz als wissenschaftlich-methodisches Konzept

In meinem letzten Artikel habe ich den Gedanken geteilt, dass Glaubwürdigkeit nicht durch externe Stempel von Institutionen und Autoritäten entsteht, sondern wenn etwas bei jenen anklingt, die es betrifft – seien es lose Gedanken, Ideen oder Erkenntnisse. Da zeigt sich die Bedeutung von lateinisch resonare „widertönen” oder “mitklingen”, wenn etwas im anderen mitschwingt. Gleichwohl zeigt sich die Nähe zur Physik: Resonanz entsteht, wenn etwas im richtigen Rhythmus angestoßen wird und dadurch besonders stark zu schwingen beginnt; wie eine Schaukel, die bei jedem Anstoß im richtigen Moment immer höher schwingt.
Wenn beispielsweise eine Beobachtung zur Gesundheit bei jemandem zu einer Wahrnehmung von “Ja, genau das erlebe ich auch, das macht für mich Sinn” führt, dann ist das eine Form der Validierung, die genauso aussagekräftig ist wie eine Studie an einer großen Bevölkerungsgruppe. Diese, ich nenne sie “dezentrale Validierung”, in Form von Resonanz entzieht den (akademischen) Gatekeepern die Definitionsmacht über Wahrheit und Wissen. Menschen werden von passiven Konsumenten zu aktiven Wissensschaffenden. Soweit waren wir. Doch Resonanz ist nur der erste Schritt.

Von Resonanz zu Kohärenz

Resonanz ist der erste Moment der Anerkennung, wenn etwas bei mir oder anderen “ankommt”, wenn etwas “stimmig erscheint”. Doch das einzelne “Etwas”, das bei einer Person resoniert, kann Zufall, Wunschdenken und auch reine Projektion sein. Erst wenn sich Resonanzen zu einem Muster verdichten, entsteht etwas robustes, entsteht Kohärenz. Aus resonanten Erfahrungen webt sich Kohärenz.

Um das konkreter auszudrücken: Resonanz lässt also zwei Töne für einen Moment zusammen schwingen. Kohärenz formt ein Lied, ohne aus der Melodie zu fallen.

Resonanz kann auch dann entstehen, wenn Teile unvollständig oder chaotisch sind. Kohärenz verlangt nach Ganzheit oder nach der Bereitschaft, darauf zuzugehen. Resonanz ist, einen Funken zu spüren. Kohärenz ist, zum Herd zu werden, der die Flamme erhalten kann. Du kannst Resonanz ohne Kohärenz haben, ein Momentum, das der Zeitlichkeit unterliegt. Du kannst aber keine Kohärenz ohne Resonanz haben, sie baut auf resonanter Beziehung auf und wird dann stabilisiert. Kohärenz überdauert.

Kohärenz verstehe ich hier pragmatisch als die Konsistenz zwischen verschiedenen Wissensformen, zwischen verschiedenen Beobachtungen über Zeit, zwischen den Erfahrungen verschiedener Menschen. Wenn beispielsweise phänomenologisches Wissen (es funktioniert), praktisches Wissen (so funktioniert es) und theoretisches Verständnis sich gegenseitig stützen, entsteht Kohärenz. Wenn ähnliche Resonanzen bei verschiedenen Menschen in verschiedenen Kontexten auftreten, verdichtet sich das Muster zu Kohärenz weiter.

Diese Kohärenz ist ein weiteres methodisches Kriterium. Wie gut fügen sich die Puzzleteile zusammen? Wo entstehen Widersprüche, die nach weiterer Klärung verlangen? Wo zeigen sich stabile “Muster” über verschiedene Perspektiven hinweg?

Emergenz

Aus Kohärenz kann schliesslich Emergenz entstehen, doch dieser Begriff bedarf der Entmystifizierung. In esoterischen Kontexten wird Emergenz oft als quasi-magisches Prinzip dargestellt, als “gesetzmäßige Entfaltung” Felder oder Kräfte. Das ist nicht, was ich meine.

Emergenz ist ein wissenschaftliches Konzept aus der Komplexitätstheorie. Wenn einfachere Elemente miteinander interagieren, können qualitativ neue Eigenschaften entstehen, die aus den Einzelteilen nicht vorhersagbar waren. Bewusstsein emergiert aus Neuronen, Flüssigkeit aus H2O-Molekülen, Verkehrsstaus aus einzelnen Fahrzeugen. Das Ganze ist mehr als Summe seiner Teile; doch Emergenz ist nicht geplant, nicht logisch, nicht vorhersehbar, und sie benötigt Komplexität um entstehen zu können.

Um zu verstehen, wie Emergenz funktioniert, können wir uns einen Vogelschwarm vorstellen. Jeder einzelne Vogel folgt drei einfachen Regeln: halte Abstand zu deinen Nachbarn, fliege in ihre Richtung, bewege dich zur Schwarm-Mitte. Aus diesen simplen Interaktionen entstehen die atemberaubenden, fließenden Formationen am Himmel, die niemand zentral “steuert” und die kein einzelner Vogel “plant”. Die eleganten Muster sind emergent. Sie entstehen aus den (resonanten) Beziehungen, nicht aus den Einzelteilen.

Die Existenz dauerhafter komplexer Systeme ist nur möglich, wenn deren Komponenten offene Systeme sind, die in einem ständigen Stoff-, Energie- und Informationsaustausch mit ihrer Umgebung stehen. Würden sie isoliert existieren, würde die Unordnung stetig zunehmen und alle Wechselwirkungen kämen zum Erliegen. Je komplexer also offene Systeme werden, desto größer werden ihre Reaktionsmöglichkeiten und desto eher können gänzlich neue Systemeigenschaften entstehen. Chaos ist unvermeidlicher Teil davon.

“Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können”, sagte Nietzsche. Um Emergenz zu erreichen müssen wir Chaos zulassen können, muss das System offen bleiben. Bubble-Bildung, die üblichen Biases und Konformität mögen zwar vorübergehende mitunter intensive Resonanz erzeugen, ersticken aber echte Emergenz im Keim.

Für die dezentrale Wissensproduktion bedeutet das: Wenn viele Menschen ihre Beobachtungen teilen, wenn verschiedene Wissensformen zusammenkommen, wenn Resonanzen miteinander in Beziehung treten, können Einsichten entstehen, die keine Einzelperson allein hätte entwickeln können. Diese emergenten Erkenntnisse sind nicht die Summe der Einzelteile, sondern qualitativ neue Muster, die aus deren Interaktion hervorgehen.

Dezentrale Strukturen schaffen fruchtbarere Bedingungen für solche Emergenz als zentralisierte Systeme. Sie ermöglichen mehr Verbindungen, mehr Perspektiven, mehr Rekombinationen, also jenen permanenten Durchfluss, der lebendige Systeme auszeichnet.

Doch Emergenz ist nicht ‘das Ziel’ und kann es nie sein, sie ist eine Möglichkeit, die sich unter bestimmten Bedingungen realisieren kann. In Emergenz zeigt sich die lebendige Architektur der Möglichkeit. Eine Brücke zwischen dem, was war, und dem, was sein könnte.

Sei der hunderste Affe!

Darum ist die Resonanz für mich so wesentlich; sie ist der Anfangspunkt des Neuen. Ignorieren wir Resonanz, berauben wir uns um unsere Zukunft.

Es gibt eine alte Geschichte von japanischen Forschern, die Makaken auf der Insel Koshima beobachteten. Ein junger Affe begann, Süßkartoffeln im Meer zu waschen. Andere sahen es, übernahmen es, gaben es weiter. Und dann, bei einer kritischen Masse – symbolisch “der hundertste Affe” genannt – geschah etwas Merkwürdiges: Das Verhalten verbreitete sich sprunghaft, nicht nur auf der Insel, sondern auch auf anderen Inseln, wo Affen ohne direkten Kontakt plötzlich dasselbe taten.

Ob diese Geschichte wissenschaftlich haltbar ist, bleibt umstritten. Doch sie erzählt eine Wahrheit über Veränderung. Es gibt “Schwellenwerte” im Kollektiven. Momente, in denen das, was wenige begonnen haben, plötzlich zum Gemeingut wird. Nicht durch Zwang, nicht durch Autorität, sondern durch Resonanz, die sich ausbreitet, bis sie eine kritische Dichte (Kohärenz) erreicht ist. Und dann kommt der emergente Sprung. Der Stern wird geboren. Ein tanzender Stern.

Der hundertste Affe ist also nicht der Letzte, der lernt – er ist der Erste einer neuen Wirklichkeit.