Eine nächtliche Kurzgeschichte
Autor: Timo Schmidt. Dieser Beitrag wurde mit dem Pareto-Client geschrieben.
Im Urwald, in dem ein Schlammboden aus zerstoßener, aufgeweichter Erde kein Moos mehr gedeihen lässt, weil durch das dichte Blätterdach schon eine komplette Ewigkeit lang kein einziger Sonnenstrahl fiel, ist es kalt wie lange nicht mehr.
Tannen schreien knarzend auf unter der Kälte, die längst die dünne Luft in Fetzen zerrissen hat. Windlos taumeln die letzten Partikel des ohnehin mageren Nebels zu einem schmierigen Film am Grund des Waldbodens zusammen und weichen gnadenlos die jahrhundertelang unbewegten Erdklumpen auf.
So schlüpfrig und matt ist die graubraune Masse, dass sie die völlig mutiert wirkenden, gewundenen Baumriesen unbekannten Alters nicht ansatzweise bändigt, sondern wie willenloser, einfarbiger Dreck von ihnen an die Seite gestoben wird.
Keine topografische Karte vermag eine Vorstellung von der heterogenen Beschaffenheit der Plateaus aus Höhen, Tiefen, Baumwurzeln, blattlosen Sträuchern und vereinzelten Gewächsen zu zeichnen. Kein Schritt in diesem todstillen Chaos könnte je dem anderen gleichen.
Selbst die wenigen Felsen und Landmarken wirken verloren in diesem Dickicht. Ihre bloße Existenz erscheint bereits bizarr. Nur entstellte, steinerne Individuen, deren Anblick sich mit jedem Hinsehen zu wandeln scheint. Unzählige Spuren und Brüche erzählen die Geschichten längst vergangener Regungen, in diesem Teil des Waldes.
Die Vorstellung, hier Leben oder gar Schönheit zu finden, ist bereits so weit weg, dass die schiere Ewigkeit lang verstrichener Zeit, der einzig denkbare Ort für diese Überlegung zu sein scheint.
Der Herbst hat diesem zeitlosen Moloch keine Befehle zu machen. Die Bäume ragen so hoch in den Himmel, dass kein lebender Waldbewohner jemals dessen echte Farbe mit eigenen Augen sah.
Die Blätter fallen so vereinzelt und langsam herunter, dass sie die vermeintliche Leblosigkeit des Waldes damit Hohn strafen. Nein, Zeit hat in diesem Teil des Waldes wahrlich keine Bedeutung mehr geltend zu machen. Alles hier ist natürlich und so alt, das jede rasche Bewegung wie ein jugendlicher Funke exotischen Lebens anmutet.
Eine elegante, weiße Pfote tappst mit einem kristallklaren Plitschen in die winzige Pfütze, die sich als Tau in einer Kuhle des Schlammbodens gebildet hat.
Plitsch. Plitsch. Plitsch. Plitsch. Plitsch. Plitsch.
Wie ein schnell zugezogener, stotternder Reißverschluss rinnt fein das Geräusch eines pirschenden Wolfs durch die Stille des Waldes.
Ohne den Hauch eines Zweifels zieht es sich in verschlungenen Linien durch das uralte Terrain des ebenso verschlungenen Dickichts aus Morast und knorrigen Wurzeln. Die Baumstämme der Riesen wirken eher wie Gebirge und am Ufer eines kleinen, flachen Bachs, mitten im Schlamm, zieht das elegante, schemenhafte Tier unbeirrt voran.
Keine überflüssige Bewegung des in sich ruhenden Wesens unterbricht den Ruhepuls des Waldes. Lediglich das
Plitsch. Plitsch. Plitsch. Plitsch. Plitsch. Plitsch,
verrät die Anwesenheit eines Lebewesens. Doch ohne einen Zeugen in Hörweite, wird das Geräusch andernorts zu einem gespenstischen Echo, welches sich in der Endlosigkeit des Waldes verliert. Es wird ein selbstverständlicher Teil des uralten, chromophoren Hintergrundrauschens.
Rostbraune Blätter schweben lose in der Szenerie, wie Flecken auf einer schmutzigen Linse.
Ein Knacken.
Ein Ast ist gebrochen.
Eine feine, spitze Ohrmuschel dreht sich zielsicher in Richtung des Ursprungs.
Den Bruchteil einer Sekunde schlägt ein Herzmuskel früher als sonst. Das genügt.
Die Pupille des majestätischen Hirschs weitet sich bis zum Rand.
Das Herz ballert in seinem Brustkorb gegen die Rippen, dass das Schlagen und Trommeln Teil des Hintergrundrauschens wird.
Die Wölfin kommt.
Mit gefletschten Zähnen, ohne zu blinzeln, galoppiert sie auf den sich panisch abwendenden Hirsch zu.
Das verzweifelte Röhren erstickt am eigenen Pulsschlag und gleicht einem heiseren Keuchen und Japsen. Was noch vom Äsen des spärlichen Grüns an Speichel im Maul ist, rinnt kraftlos aus dem verzerrten Mundwinkel. Er rast.
Behände, doch blind durch die Vision des Todes, welche die Silhouette des Wolfes ihm aus der Ferne vorausschickte, zertrampelt er vollen Galopps das verschlammte Gelände, dass dicke Tropfen und feine Bröckchen nur so fliegen und spritzen.
Stolpernd zwar, doch zielsicher, gewinnt er sekündlich Meter für Meter. Verheddert sich, berappelt sich. Stößt an ohne anzuhalten.
Sekunden sind jetzt kostbar geworden, in diesem Teil des Waldes.
Er jagt durch das Geäst und den schmatzenden Schlamm. Seine Chancen verbessernd, Leib und Leben vor der flüchtigen Vorahnung des Todes in Sicherheit zu bringen.
Schnell und rhythmisch, pustet er knappe Luftstöße aus der kreisrunden Mundöffnung. Ununterbrochen, um nicht den Atem zu verlieren.
Pust. Pust. Pust. Pust. Pust.
Nach einer vollen Stunde pumpt das Herz, nur noch trotzig vor Erschöpfung klopfend, die letzten Reserven durch die wie ätzende Säure brennenden Muskeln.
Taub vom Trommeln und den Herzschlägen pfeift ein unterdrückter Ton hell im Gehörgang. Erstickt. Fern, wie durch ein Kissen gedämpft. Die vom Luftzug hartgetrockneten Tränen drücken das Fell eng durch die Haut an den glatten Schädelknochen.
Die Beine kommen langsam zum Stehen, wie ein Aufziehspielzeug in den letzten Zügen und der mächtige Hals hängt, erschlafft vom Gewicht des Kopfes, durch. So streckt das mächtige Geweih des Hirschs nach vorn, wie die Fortsätze eines Atlaskäfers.
Trab. Trab. Trab.
Die letzten Schritte sind gefasst wie in Zeitlupe.
Der Hirsch steht. Das Herz klopft seit einer Stunde die ersten drei Male wieder ruhig.
Trab. Trab. Trab.
Der Hirsch steht. Hatte er es sich möglicherweise bloß eingebildet? Gelaufen war er, durchgängig. Nicht einen einzigen Augenblick lang hatte er sich die Gewissheit erlaubt, ein angelegtes Ohr oder gar den Blick nach hinten zu richten.
Vielleicht war er längst in Sicherheit gewesen, aber hatte sich nicht getraut, sich zu vergewissern. Ein wenig benommen, doch mit wiederkehrenden Sinnesfunktionen, harrt der Hirsch.
Einen Augenblick lang. Ein Schmetterling öffnet die Flügel. Der Hirsch hebt den, immer noch vor Erschöpfung schwerer als sonst, wiegenden Kopf.
Ein Kiefer schließt sich so grazil, wie ein Schmetterling die Flügel.
Der neblig wabernde Waldhorizont erfriert in seinem Blick und eine erschreckend gleichmäßige, -nicht ruckartige- schwarze Blende zieht sich vom Rand hin zur Mitte zu, wie eine zu gezurrte Kapuze. Ein kleiner, runder Ausschnitt Waldhorizont bleibt.
Der Reißzahn hat wenige Zentimeter unter dem Kinn beginnend die Halsarterie der vollen Länge nach bis zum Knick vor der Brust nicht aufgeschlitzt, sondern leise geöffnet, wie ein Geschenkpapier, dem das Band herausgezogen wird.
Als wüsste es nichts von seiner geöffneten Ummantelung, stürzt das Blut im freien Fall, über die volle Länge des Halses, aus der Ader heraus.
Als würde jemand einen großen Farbeimer durch den Spalt schütten, stürzt das Blut in einer mit dem Lineal gezogenen Linie zu Boden, wie ein tiefroter Seidenvorhang.
Kein Tropfen. Ein rauschendes Schütten zerreißt die Waldesstille und platschend schmoddert das Blut in den Schlamm, wo es sich nicht mit ihm vermischt, sondern ihn regelrecht beiseite spült.
Feine Bläschen schwimmen und kentern in der plötzlichen Flut. Tauchen auf-und-unter und vergehen, während die Lebensflüssigkeit mit Wucht seinen Platz in der Welt zurückerobert und sich unter den Schlamm mengt.
Der kleine, runde Waldhorizont reißt 360° auf. Das Auge ist sperrangelweit offen und ein Moment völliger Klarheit spiegelt sich in den feuchtglänzenden Kugeln. Eine einzelne hauchdünne Träne rinnt wie ein Faden aus dem Auge.
Nicht vor Schmerz. Nicht aus Trauer.
Das unfreiwillig gegebene Einverständnis zum Tod entrinnt dem Auge und die Klarheit des Moments, weicht der Bewusstlosigkeit.\
Der anmutige Körper fällt schlaff in sich zusammen, schnurgerade, wie von selbst abgelegt.
Kraftlos. Leblos. Aber nicht würdelos.
Das Geweih stößt mit einem satten, aber kaum hörbaren Schmatzen in den Boden, als würde man einen Holzspeer locker in den Sand stoßen.
Der Hirsch ist Tod. Ein Monument. Eine Hirschstatue steht nun still im Hain. In einem Roten See zu seiner Brust, liegt er aufrecht und gerade im Wald. Reglos wie die Steinindividuen des Waldes. Stille.
Rah. Rah. Rah. Rah. Rah. Rah.
Eine schnörkellose, schwarz gefiederte Andacht zum Grabe des Hirschs gerichtet.
Von der Wölfin keine Spur.
Kein Zweifel bleibt.
Sie war hier. Sie hat gerissen. Aber sie hat nicht gefressen.
Eine eiskalte Brise pustet durch den Wald und bringt eine schmerzlich vermisste Dynamik in das grauenhaft-emotionslose Ambiente dieses Teils des Waldes.
Blutrote Blätter gleiten in der Szenerie, wie Funken eines knisternden Feuers.
Die Böe versiegt im Körper des Waldes, als hätte sie schlagartig die Kraft verlassen, diesem Moloch weiterhin ein Leben einzuhauchen.
Der Hirsch meditiert stumm im Schlamm. Aus den glänzenden Kugeln entschwindet langsam der Glanz, bis schlussendlich das Leben in ihnen ermattet.
Das Lid fällt zu. Für den Hirsch beginnt der Nachtschlaf.
Bei Nacht will man lieber nicht mehr im Wald unterwegs sein.
Doch noch ist es Tag, in diesem Teil des Waldes.
Sonnenlicht im Urwald erscheint nur als diffuses Zwielicht. Bricht sich durch die verästelten Kronen betagter Baumriesen, biegt und windet sich, bis die Strahlen, vor lauter Windungen, wie entstellt wirken.
Förmlich erstarrt in der feucht-frischen Luft, wenige Meter über dem Boden zu einem wirren Farbknäuel ineinander verflochtener Lichtstränge verschmolzen. Taubenblau und Bisonbraun. Wie feine Watte saugt das Lichtgemsich die Farben auf und verwischt sie scheinbar willkürlich in der bodennahen Luft.
Kaum mehr hell genug, um eine Kontur herzustellen. So unstet und zerfurcht wie der Waldboden, fällt das Licht als lebloser Schlamm durch die Blätter, Zweige und Äste, bis in den Hain. Gerade genug, dass der Waldhorizont sich Schicht für Schicht, gleich den Ölgemälden alter Meister, vom Hintergrund unbekannten Materials abzusetzen vermag.
Zu blass, um die unreine Lichtatmosphäre des Waldes wirklich zu erhellen, doch lebendig genug, eine totale Dunkelheit nicht zuzulassen. Wo man eine Farbwoge sinnlich ergreifen möchte, blasst sie aus und wird milchig, als würde sie aus stiller Höflichkeit dem Weiß gegenüber, einen sorgfältig bedachten Schritt zurück tun.
Scharf hauchendes Mintgrün tritt zurück, lässt hellem Gelb den Vortritt. Doch das drängt raus aus dem Mittelpunkt der Betrachtung, taucht die Luft bloß in sanft scheinenden Gleichmut und zieht sich wieder zurück.
Furchteinflößende Kontrastlosigkeit, im selben Grau-braun wie der Schlamm, ist die Farbe des Lichts in der vordersten Schicht Waldluft.
Eine unsichtbare Kraft schiebt in dünner, transparenter Linie eine ganze Menge klaren Wassers, streng, stromlinienförmig und glattgestrichen. Kurvenreich den natürlichen Wölbungen des Bodens folgend, gleitet es über den Grund eines zerfallenen Grabens, wo vor langer Zeit mal ein Fluss im Bett gelegen haben muss.
Kühle Trägheit liegt über dem Flusswald. Der Modder des unbewachsenen Waldgrunds trennt sich selbst von der Flüssigkeit, als könne er spüren, wie das Gewicht seiner Übelkeit ihn zwingt, die Klarheit im Wasser stoisch über sich hinwegrinnen zu lassen.
Das Zentrum des Urwaldes ist nicht die Sonne.
Das Zentrum ist in Bewegung.
Schlap. Plipp. Schlap. Plipp. Schlap. Plipp. Schlap.
Eine zartrosa Zunge platscht ins eiskalte, empfindliche Fließen des kleinen Bachs. Wie filigrane Töne einer vorsichtig angeschlagenen Röhrenglocke des Windspiels, antwortet das Bachwasser mit hauchfein zerstäubten Klängen, als der minimale Sprühnebel neben den Zungenschlägen wieder ins Wasser heimkehrt.
Plitsch. Platsch. - Plitsch. Platsch.
Das Züngchen fällt lose ins Wasser. Löffelt eine kleine Menge flüssigen Eises in ihre Spitze und verschwindet nahezu geräuschlos wieder in der schlanken, weißen Pipette.
Rosa ins Glas, Eis ins Weiß. Von vorne.
Und nochmals.
Rosa ins Glas, Eis ins Weiß. Von vorne.
Rhythmisch schöpft die Wölfin konzentriert Schlückchen für Schlückchen vom Bach ab. Hinein in ihre spitze Schnauze, welche -angespannt wie eine prüfende Zehe ins Badewasser- nur ein winziges Bisschen über der Wasseroberfläche balanciert. Ihr Blick streng und wachsam auf den Waldhorizont ausgerichtet. Das Blickfeld weiter aufgespannt als ein traditioneller Regenschirm, so das ihrer Betrachtung kein noch so unbedeutendes Detail entgehen möge.
Kein Tropfen Wasser.
Kein Tropfen Blut.
Das strahlend weiße Fell der Wölfin ist eine Anomalie in diesem Teil des Waldes.
Sie wirkt gelassen wie immer.
Doch sie ist nervös.
Jede Faser des schlanken, gleichzeitig muskulösen Leibes ist kurz vor das schmerzhafte Limit angespannt. Am Körper allein lässt es sich nicht ablesen.
Es ist ihre Haltung. Jede Gewissheit der Welt, steckt in ihrem bloßen Blick auf den Waldhorizont. Sie ist zu intuitiv und erfahren, um den Grund nicht zu kennen. Es sind keine Erschöpfungserscheinungen von der Pirsch, oder gar so etwas menschliches wie Reue, für den gerissenen Hirsch. Etwas anderes macht sie nervös.
Nein.
Mehreres anderes.
Das ihre sonst so feinen Sinne es nicht präzise identifizieren können.
Das ihr unfehlbarer Instinkt anschlägt, doch Schnüffeln und Lauschen keine Antwort geben.
Das, macht sie nervös.
Es ist ihre eigene Präsenz. Es ist die Art der Wirkung, die sie sonst auf ihre Beute ausstrahlt.
Der unnahbare, gnadenlose Sinn des Raubtiers, der auf ihr liegt und sich weder erfassen noch abschütteln lässt.
Das Begehren einer Beute.
Ein Jagdinstinkt. Aber nicht ihrer.
Und noch etwas anderes. Mehreres anderes.
All das versucht sie in ihrem wachen Blick auf den Waldhorizont einzufangen. Es will nicht gelingen.
Da ist nicht nichts.
Da lauert etwas.
Halt! Da ist etwas!
Gröööh! rum, gwäääh!
Zerreißt ihren Durst in einer blitzschnellen Bewegung und schleudert sie aus dem Fokus ihrer eigenen Wahrnehmung.
Von einer Sekunde zur nächsten, wird die Anspannung über ihr schmerzhaftes Limit gesteigert und sie wirft panisch-suchend den Blick der Nase nach links und rechts gleichzeitig.
Die weichen, spitzen Ohren stehen vom Kopf ab, wie Antennen im Anziehungsfeld eines Elektromagneten.
Ihr Magen. Sie hat noch nichts gefressen.
Sie hatte die Hirschskulptur nicht verspeist.
Da draußen liegt sie noch. Nicht im Flusswald.
Die steht noch immer stolz und aufrecht im anderen Teil des Waldes.
Bis zur Brust im blutgefluteten Schlamm, der die Ungezähmtheit des Hains nicht eindämmen kann.
Denn der Matsch ist ein ebenso ungezähmter Teil davon.
Jedenfalls ist der Hirsch zwar tot, doch nicht ihre Beute geworden und der Magen presst sich ohne Rücksicht auf sich selbst von innen gegen ihr Rückgrat. Ihr Magen ist eine verschrumpelte, leere Walnuss, welche ihr Inneres nur noch so weit geöffnet hält, dass die Erwartung eines Mahls hineinpasst.
Sie muss fressen.
Dem unbändigen Willen der Wölfin ist der Hunger zwar nicht gewachsen.
Doch ihrem fleischlichen Körper sehr wohl.
Sie darf nicht schwach sein, denn das ist der Fluch eines Raubtiers: Wer nicht mehr stärker sein kann als Beutetiere, der kann auch niemanden mehr jagen.
Sie muss stark und bei Kräften bleiben.
Sie hat keine Wahl.
Die Wölfin muss stark bleiben. Und Aas ist seltener als Schönheit, in diesem Teil des Waldes.
Es nützt nichts.
Die volle Wachsamkeit, das duldsame Lauschen.
Die Wölfin muss weiterziehen.
Tap. Tap. Tap.
Glamouröse, federleichte Pfotentappsen setzen die stattlich bezahnte Ballerina in Bewegung. Sie muss in den Wald. Der Magen knurrt ihr einen leichten Buckel ins Kreuz.
Innehalten. Die vorderen Glieder werden wie Halteseile in eine Stelle festgepressten Waldbodens neben einem Baumriesen gespannt, die Brust bis kurz über den Grund gepresst. Die Wirbel bis zum Hintern grazil durchgestreckt.
Ein lautloses Gähnen.
Wieder in der Grundstellung, bricht die Ballerina auf.
Rah. Rah. Rah. Rah. Rah. Rah.
Versteckter, schwarzer Humor, uncharmant auf die possierlich posende Wölfin gerichtet.
Unbeeindruckt wie zur Machtdemonstration und geschmeidiger als zuvor, tanzt sie geschwind, Pfote für Pfote über den schnalzenden Unrat hinweg in Richtung des Waldes.
Taps, Taps Taps!
Tänzelnd, mit einem sich leicht kreuzenden Beinschwung legt die Wölfin weite Strecken auf verworrenen Pfaden zurück, die sie nicht einmal selbst kennt. Der Wald kennt die Antworten, denen sie versucht zu entkommen. Tausend Augen und Ohren sind auf die Schönheit gerichtet, während sie sich rastlos Bahn bricht.
Bröckelnde Steinchen und das hellhörige Knuspern zertretenen Laubs stimmen ein, in das für gewöhnlich lautlose Tapsen. Böige Luftzüge haben die dünne, obere Schicht auf dem Schlammboden ausgetrocknet, doch darunter ist er noch feucht. Die Mixtur ist klebrig und heftet sich an die weichen Pfotenballen und spitzen Krallen.
Die Schritte werden schwerer. Eine Einschränkung, die sich die Wölfin nicht leisten kann.
Die Tapsen werden langsamer.
An einem Ort, wo ein -den Bruchteil einer Sekunde zu früh- schlagendes Herz den Schlamm rot färben und ein Leben enden lassen kann.
Ein Schnüffeln in die felsharte, entgegenkommende Brise.
Der Duft einer grauenhaften Vorahnung liegt bereits darin.
Orange leuchtende Blätter begrüßen, in leuchtendes Schweigen gehüllt, die nahende Dämmerung.
Wenn die für wenige Minuten fast horizontal durch den Wald schießenden Lichtstrahlen einen Herzschlag lang wie Scheinwerfer zwischen den Baumriesen hindurchleuchten.
Wenn das Monument des Hirschs vom Auge des Raubtiers fokussiert wird.
Wenn der Instinkt bedeutungslos wird und allein der Reflex entscheidet, welcher die Bruchteile einer Sekunde in pure Stärke verwandeln kann.
Dann beginnt die Nacht. Bei Nacht will man lieber nicht mehr im Wald unterwegs sein.
Doch noch ist es Tag, in diesem Teil des Waldes.
Noch ist es Tag, in diesem Teil des Waldes.
Gerade hat die Stunde des Hirschs geschlagen.
Vor Kraft strotzend, hat der mächtige, schwarze Wolf bereits aus großer Distanz verdichtete Waldluft in seinen Riechrezeptorzellen analysiert und kritisch die Klänge des Stücks mit seinen scharfen Stehohren interpretiert.
Diese Szene gehört nun Ihm.
Die Statue des Hirschs ebenfalls.
Der stärkste Räuber im Wald, braucht sich oft genug nicht selbst bemühen. Er nimmt sich lediglich jene Beute, die Ihm nach Anwendung der Rechtsprechung des Stärkeren zusteht.
Und diese Beute gehört längst nicht mehr der Wölfin.
Er hat bereits ein Auge auf sie geworfen, seitdem der stolze Hirsch beim Äsen die Augen aufriss und floh.
Für feine Wolfsnasen ist es ein leichtes, der Spur von Adrenalin und der Furcht in aller Gelassenheit zu folgen, bis die Beute sich -völlig erschöpft- schlussendlich selbst in die Falle manövriert und zur Gegenwehr unfähig geworden ist.
Die Wölfin hat Ihn erst bemerkt, als es für ihn ohnehin bereits nicht mehr nötig ist, in der Deckung zu verharren.
Er war es selbst, der sich zu erkennen gegeben hatte. Noch bevor seine imposante Präsenz sich in Ihrem Blickfeld am Waldhorizont abzeichnet, flieht sie und nimmt Reißaus.
Kluge Wölfin. Sie hätte nicht den Hauch einer Chance gehabt. Seine bloße Statur und schiere Körpermasse hat den Vorteil bedeutet, noch bevor es zum Kampf gekommen ist.
Als der grazile, weiße Körper sich wie der Zeiger einer Sonnenuhr, aus dem Stand gesprungen und mit einem einzigen, zahnbewehrten Flügelschlag ihres Kiefers am Hals des Hirschs entlang schraubt, hält der schwarze Wolf einen Moment inne.
Ein solch kunstfertiges Manöver bezeugt man nur einmal im Leben. Es kostet ihn drei ganze Herzschläge, die Fassung zurückzugewinnen und den geplanten Beutezug fortzusetzen.
Dann verschwand sie spurlos. Doch das Kunststück ward vollbracht und der Lohn wartet bereits auf Ihn.
Alle Zeit der Welt nimmt er sich. In völliger Ruhe und Selbstsicherheit ob des wieder einmal garantiert gefüllten Magens, setzt er ruhig seinen Weg zum frischen Kadaver fort.
Achtet peinlichst genau darauf, seine bewährten, schwarz-glänzenden Krallen nicht in den feuchten Pfützen am Waldboden zu verschmutzen. Nicht eine einzige Sekunde lässt er das Mahl am Waldhorizont aus den Augen.
Das spärliche Waldlicht bescheint verheißungsvoll die reich gedeckte Tafel und das tiefrote, runde Tischtuch lässt die Erwartung noch genussvoller werden. Der Speichelfluss im Empfangsraum seines Schlunds gerät zu einem wahren Wasserfall.
Rah. Rah. Rah. Rah. Rah. Rah.
Ein pechschwarzes Omen, mahnend in Richtung des Wolfs gerichtet.
Diese Beute gehört längst nicht mehr dem Wolf.
Sie gehörte ihm nie. Das weis er. Doch er kennt keine Furcht. Musste sie nie kennenlernen. Das Privileg des Stärksten, in diesem Teil des Waldes. Unbeirrt der deutlich mahnenden Klänge, nähert er sich langsam dem Futterplatz.
Er hält in Erwartung des Festschmauses, der köstlich und verführerisch duftend auf dem roten Tischtuch wartet, einen Moment inne.
Wie die Schwinge eines Geiers öffnet sich sein Gebiss über der Hirschfigur und schließt sich mitten im Rumpf des Tiers um einen riesigen, saftigen Brocken Fleisch.
Gierig lässt er ihn sich in den gefräßigen Rachen fallen, während er den gewaltigen Wolfsschädel in den Nacken wirft.
Diese gestohlene Beute wird er dem Tod teuer abkaufen. Es ist eine Lektion, die der Wald den Unachtsamen erteilt, die seine Zeichen nicht zu deuten vermögen. Seinen eintausend Augen und Ohren entgeht niemals eine Bewegung.
Schon gar keine falsche Bewegung.
Bevor der saftige Fleischbrocken überhaupt die Kehle hinunter gleiten kann, nähern sich fünfhundert Nadeln und viertausend Haken im Sturzflug.
Die ersten acht Krallen ergreifen den zurückgeworfenen Nacken, stibitzen ruckartig ein Büschel schwarzes Fell und verschwinden damit.
So schnell, wie sie gekommen waren.
Zwei Pupillen werden erzürnt aufgerissen und werfen die mächtigen Kiefer innerhalb der Spanne eines Herzschlags in Richtung des Diebs, wo sie mit beängstigender Wucht zusammenschnappen und nichts weiter zu fassen bekommen, als einen Hauch kühler, feuchter Waldluft.
Flap! Flap! Flap! Flap! Flap!
Noch während desselben Herzschlags zieht ihm etwas quälend an der Rute.
Erschrocken fährt er herum und die Kiefer ergreifen dort nichts weiter, als eine formlose Woge Waldlicht.
Stechender Schmerz. Eine stumpfe Nadel wird in eine Schulter gebohrt.
Schnappen. Daneben. Ein Stich. Schnappen. Daneben. Ein Dieb. Schnappen. Daneben. Ein Kratzer. Schnappen. Daneben. Ein Pick. Schnappen. Daneben. Eine Finte. Daneben.
Tobsüchtig fährt das wilde Tier herum, verzweifelt vor Wut und unfähig zur Gegenwehr. Noch immer steht er neben dem eroberten Monument des Hirschs, welches er noch immer beansprucht.
Wie eine Trauerweide im Tornado schleudert er den Kopf nach allen Seiten, versucht die fünfhundert Angreifer abzuwehren, seine Beute zu verteidigen.
Stellt sich auf, wird in den Rücken gestochen, am Hals gekratzt, am Bein verletzt. Nimmt die Pfoten zu Hilfe, schlägt hinein in die Leere.
Sie ködern ihn, provozieren ihn.
Der mächtige Einzelgänger ist ein wehrloser Welpe.
Der mächtige Leib nichts weiter, als der Abreißkalender seines eigenen Untergangs.
Finte um Finte, Manöver für Manöver. Jedes mal wird ein Stück mehr abgetragen von ihm. Fünfhundertfach zerpflücken sie seinen schwarzen Pelz. Fünfhundertfach stoßen sie Nadeln in seinen Stolz.
Ein Stehohr wird während einer hektischen Drehung ergriffen und seine monströse Muskelkraft erledigt den Rest.
Zum ersten mal in seinem Leben spürt der Wolf solchen Schmerz. Dieser Schock schickt einen einzigen Impuls, gleich einem Blitzeinschlag, durch seine Wirbelsäule bis in die Schwanzspitze und die entferntesten Winkel seiner Fersen.
Paralysiert muss er die Luftabwehr einen Moment vergessen, weil das Adrenalin ihm die Kontrolle über seine Gliedmaßen verweigert.
Sie lassen nicht ab von ihm.
Rupfen ihn wie ein Huhn.
Picken seine Arroganz wie Körner.
Zerlegen die Macht des Einzelgängers im Kollektiv. Mit Schläue-
und in stillvergnügter Teilnahmslosigkeit.
Das Momentum hat den Mächtigen endgültig verlassen. Der Kampf, der nie einer war, hat sein Geschick gegen ihn gewendet. Dem Verlierer ist die Aussichtslosigkeit der Lage nun schmerzhaft bewusst geworden.
Kommuniziert in Fremdkörpersprache.
Zwangstätowiert von schwarzen Schnäbeln.
K’räh, k’räh, k’räh, k’räh, k’räh . . . !
Der Wolf kann keinen Widerstand mehr leisten, stellt die Verteidigung ein und ergreift die Flucht.
Doch wohin?
Sie kleben an ihm, aber er kann sie nicht abschütteln.
Er versucht wegzulaufen- aber sie können fliegen.
Er versucht sich zu verstecken- aber sie haben eintausend Augen und Ohren.
Er will um Gnade betteln- doch versteht er ihre Sprache nicht.
Hunderte Raben reißen Fleisch aus der Verankerung der Haut. Bohren glatte, schmale Schnäbel hinein. Wühlen sich saftige Stücke aus ihm heraus und rupfen das störende Fell beiseite.
Mit grausamen Gleichmut machen sie ihn kleiner als sie.
Aus Trotz wird Schmerz.
Aus Wut wird Furcht.
Aus Widerstand wird Flucht.
Aus Lektion wird Folter.
Hastigen, unbeholfenen Schrittes geben seine makellosen, schwarzen Krallen ihm im glitschigen Schlick des Waldesgrunds keinen ausreichenden Halt. Stolpernd und wimmernd kämpft er sich in die Illusion der Sicherheit vor, die er in einer nahen Senke verortet sieht.
Keine hundert Meter weit kommt er. Er kauert sich in sie hinein.
Rollt den schwarzen Schweif ein, um ihn nicht büßen zu müssen. Verbirgt die kräftigen Glieder unter dem Rumpf, um ihre Bewegungsfähigkeit nicht missen zu müssen.
Das noch stehende Ohr wird -verzweifelt Schutz suchend- angelegt.
Die Augen gequält vor dem Schrecken zugekniffen.
Wmm! Wmm…! Wmmmm….! Mmmm. . . . mmm…
Auf Suche nach Erlösung öffnet sich nur für einen kurzen Moment ein Augenlid und gibt den feucht-glänzenden Schlitz preis.
Gezielt zuckt ein blanker, zornloser Schnabel hinein.
Die tränenfeuchte Kugel platzt wie ein Wasserballon. Ohne Emotionen sifft der Inhalt des Auges über die wölfische Gesichtsmaske. Der Inhalt klebt jetzt im ausgefransten Fell seiner Visage.
Wütende Stöße, pöbelndes Gekreische und laut schmatzende und würgende Genugtuung brechen über ihn herein wie prasselnder Starkregen im Herbst.
Tosend und peitschend bricht der Sturm der Veränderung über ihn herein.
Mitgefühl hat hier keinen Platz.
Gnade ist ein Fremdwort, in diesem Teil des Waldes.
Purpurne Blätter stehen in der Luft wie eine Stumme Offenbarung.
Jener Moment, in dem zwei Herzschläge lang die Lichtstrahlen aus der Horizontale, diagonal in den Waldeshimmel klappen und sich das dunkelblau der Nacht mit dem letzten Rest orange des Tages überlappt und alles in sein zeitloses Gefüge aufsaugt, was sich nicht an der Kraft dieses Moments abzustoßen vermag.
Es ist jetzt Nacht, in diesem Teil des Waldes.
Ein vorsichtiges Tapsen wagt sich im Schutz der Nacht aus dem Versteck. Ohne Geräusch. Flach wie eine Scholle driftet die eisweiße Schönheit aus der Deckung und richtet prüfend die Maske auf den stockfinsteren Waldhorizont.
Gesegnet, wer den Luxus der Vollständigkeit besitzt.
Zwei leuchtende Augen. Zwei weiche Ohrmuscheln. Eine weiße Pipette, gefüllt mit den Aromen des Augenblicks.
Ein blankes Hirschgerüst liegt zerhackt und verbogen in einer aufgewühlten Pfütze schwarzen Morasts.
Hervorlugende Zweige und vertrocknete Pflanzenreste frieren gemeinsam im Bett des ausgetrunkenen Teichs und sehen aus wie ein verdrecktes, zerrissenes Tischtuch.
Von der Würde des Hirschs stehen nur noch blankgenagte Knochen.
Schnüffelnd und blind wie ein Metalldetektor pflügt eine strahlend weiße Nase durch das Gelände.
Da liegt ein Ohr.
Mit einem Happs im Mund.
Gerade genug Fleisch, um die reelle Leere einer Walnuss zu füllen. Besser als nichts. Der Scan geht weiter. Ein neuer Duft. Zwei Ohrmuscheln werden neugierig ausgefahren.
Nicht Nichts.
Nein. Etwas.
Leise Atemgeräusche im Ökosystem. Ein vertrauter Geruch. Es riecht hier nach nassem Fell.
Und nach Wolf.
In einer Senke liegt die Quelle des Neuen Eindrucks. Ein Fellknäuel, schwarz wie Teer, liegt darin und atmet ganz, ganz schwach.
Es hebt sich im stillen Atemrhythmus.
Es senkt sich im schwachen Flüstern eines erstarrten Ausatmens.
Hier liegt ein Mitwolf. So grauenhaft zugerichtet, dass sie für die Dauer eines Herzschlags erschaudert. Dieser Ausdruck ist der erfahrenen Wölfin bestens bekannt:
Reine Hilflosigkeit.
Milde und prüfend besichtigt sie das Fellknäuel und unterzieht es einer achtsamen Prüfung. Schnuppert. Schaut. Stupst.
Ein heiseres Wimmern antwortet. So leise, das nur zwei aufmerksame Muscheln es einfangen können.
Eine sanfte, kühle Brise weht über die Senke und lässt das löchrige, nasse Knäuel zittern.
Nachdenklichkeit und Entschlossenheit werden ein Paar, in diesem Teil des Waldes.
Eine zarte rosa Zunge berührt die wunden Stellen leckend und wäscht das Übel aus ihnen heraus, auf dass die Zeit sie schließen möge.
Gründlich und mit Hingabe pinselt die feine, rosa Spitze in jede Öffnung und kehrt Schmutz hinaus. Bringt Feuchtigkeit hinein. Reinigt das gepeinigte Tier, setzt seinen Heilungsprozess in Gang.
Schleckt vorsichtig und bedacht Mitgefühl in das eisige Fleisch hinein.
Der kalte Wind braust zu einer schneidenden Luftfront auf. Doch Gnade ist kein Fremdwort für die Wölfin.
Mitgefühl ist zurückgekehrt.
Entschlossen legt sie sich flach wie eine Eisscholle über den Rücken der Senke, thronend auf der zerfetzten Oberseite des Räubers.
Eine flauschige, strahlend weiße Kuscheldecke, deckt den verletzten Welpen behutsam zu. Auf das die Kälte ihn tröstet, nicht schneidet.
Der Mond steht über dem Waldeshimmel.
Schwarz-weiß ist die Abwesenheit des Lichts.
Graue Blätter rieseln wie der erste, vorsichtige Neuschnee am Winteranfang herab. Geborgenheit. Ruhe und Frieden herrschen in diesem Teil des Waldes.
Es ist jetzt Nacht. Bei Nacht will man nicht allein im Wald sein.
Doch morgen scheint wieder bunt die Sonne, in diesem Teil des Waldes.
Und es macht
Taps Taps. Taps Taps. Taps Taps.