Psychologie des Wandels. Zur Natur des Menschen

Wir Menschen seien primär egozentrierte Wesen. Der Beitrag prüft die Plausibilität dieser Behauptung und stellt psychologische Gewinne dar, welche bei Überwindung dieses Mythos erwartet werden dürfen.

Eine seit langer Zeit verbreitete Annahme über unsere eigene Natur besagt, wir Menschen seien in erster Linie selbstzentrierte Wesen. Jeder müsse sich gegen die anderen als Konkurrenten um knappe Ressourcen behaupten. Der Eigennutz sei zentrale Antriebskraft jedes menschlichen Wesens. Diese Annahme wurde von Adam Smith (1776) in einer Weise auf die Wirtschaft übertragen, dass diese Antriebskraft zur Motivation für den Aufbau ganzer Gesellschaften erhoben wurde: Eine Wirtschaft, in der die einzelnen Menschen auf ihren Vorteil bedacht sind, sei die beste Voraussetzung für das Erlangen gesellschaftlicher Wohlfahrt. In unserer Gesellschaft scheint diese Annahme eine kaum noch hinterfragte Selbstverständlichkeit geworden zu sein: Konkurrenz „belebt“ das Geschäft - Wettbewerb und Wetteifern finden an vielen Orten statt. Vom Kinderspiel angefangen, über die Schulbildung, Universitäten bis hin zum Wettkampfsport wie Fußball: Es geht darum, die besten, schnellsten, stärksten Einzelnen oder Gruppierungen zu ermitteln, welche dann besonders belohnt werden.

Die Aussicht auf Belohnung des Einzelnen oder der eigenen Gruppe, also die Erhöhung zum eigenen Vorteil, so die Annahme, treibe alle Mitglieder zu Höchstleistungen an und sei damit der Motor für das Fortschreiten einer Gesellschaft. Dass der Preis für diesen Prozess zahllose Verlierer sind, wird als notwendiges Übel hingenommen: Jeder von uns könne schließlich - im Prinzip - Olympiasieger oder Millionär werden. Wer im Wettkampf unterliegt, so die Logik des Argumentes, sei eben nicht klug oder stark oder motiviert genug gewesen, um zu siegen, aber das sei der Gang der Dinge in der Evolution: Die Fittesten unter uns setzten sich durch, erlangten die meisten Vorteile, könnten sich am besten vermehren und sicherten so das Gedeihen unserer Art und auch der menschlichen Gesellschaft.

Jedem von uns sind sicherlich Menschen bekannt, die vorrangig vom Eigennutz getrieben sind, die gern nehmen, aber weniger gern etwas hergeben. Darf man daraus schließen, dass die allgemeine Annahme vom Eigennutz als Haupttriebfeder von Menschen zutreffend und zielführend für das Gedeihen einer Gesellschaft ist? Ich glaube das nicht aus verschiedenen Gründen.

Lassen Sie uns dem Problem zunächst aus einer sachlich-logischen Perspektive nähern: Kenn Sie Menschen, die selbstlos handeln, aus dem Bekanntenkreis oder aus der Geschichte? Einige einzelne Menschen, deren Leben nicht vom Eigennutz-Motiv, sondern von anderen starken Motiven getragen wurde, reichen aus, um zu zeigen, dass das Eigennutz-Motiv nicht als primäre Triebkraft „von Natur aus“ verankert  sein kann. Warum? In dem Fall müsste es bei allen Menschen primäres Motiv sein.

Und scheint Ihnen aus einer evolutionären Perspektive die Annahme plausibel, dass ausschließlich selbstzentrierte Menschen einen Selektionsvorteil hätten? Wir Menschen haben von Anbeginn an nur in Gruppen überleben können. Haben Sie schon einmal ein neugeborenes Lamm oder Kalb beobachten können? Es steht nach wenigen Minuten auf und läuft los. Und ein Menschenbaby? Wir Menschen können als Babies und Kinder die vielen Jahre bis zur Selbständigkeit überhaupt nur überleben, weil die Erwachsenen der Menschengruppe in intensiver Weise kooperieren und gemeinsam die Dinge bereitstellen, die ein Kind zum Aufwachsen braucht. Wenn Sie dem zustimmen, scheint klar zu sein, dass egoorientierten Einzelkämpfern im Prozess der Evolution wenig Chancen einzuräumen sind.

Aus psychologischer Perspektive wird schnell klar, dass eine starke Ausrichtung des Lebens am Eigennutz-Motiv schwerwiegende Nebenwirkungen mit sich zieht, die auch bei erfolgreicher Selbsterhöhung den damit erlangten Nutzen entwerten. Stellen wir uns eine erfolgreiche Sportlerin oder einen erfolgreichen Geschäftsmann vor. Es ist ihnen gelungen, die Konkurrenten zu übertrumpfen und nun über mehr Ruhm oder materielle Dinge verfügen zu können als die anderen. Menschen diesen Schlages haben zu konstatieren, dass der Erfolg ihrem sozialen Netz nicht unbedingt nützt: Die Übertrumpften, verärgert über die Niederlage, scheiden als Freunde aus. Aber auch bei allen anderen Menschen hat der Siegertyp ein Problem. Er kann nämlich nicht sicher sein, ob einem potentiellen Freund an ihm als Person liegt oder ob der vermeintliche Freund nur am Bonus des Siegers teilhaben möchte, oder noch schlimmer, ihm diesen Bonus streitig machen möchte. Das wäre ja im Rahmen des Menschenbildes des Siegers durchaus plausibel: Dass die anderen Frauen und Männer  weiterhin auf einen Sieg aus sind. Folge wäre in dem Fall eine selbst gewählte Isolierung von Teilen der Gesellschaft. Diese können wir tatsächlich bereits in Teilen der Welt beobachten: Viele privilegierte Menschen verbringen ihr Privatleben in umzäunten Siedlungen („gated communities“), abgeschirmt vom Rest der Welt.

Sind wir Menschen soziale Wesen - und von einer Einbettung in eine funktionierende Gruppe existentiell abhängig, materiell wie auch psychologisch? Dann hätte der Siegertyp mit seiner ego-orientierten Lebensweise ein existentielles Problem. Eine Lösung, welche man in seichten Filmen hierzu angeboten bekommt, will auch nicht recht überzeugen: Man könne ja seinen Bonus verbergen und sich als jemand aus der Mitte der Gesellschaft ausgeben. Leider ist das auf Dauer nicht durchzuhalten. Und die Lösung, seinen Bonus zu verschenken - auch das kommt in der Wirklichkeit vor, wie man an Millionenspenden sehen kann - ist für die Gesellschaft vielleicht nützlich, für eine Person aber absurd. Wozu einen Teil der Lebensenergie in ein Wettkampf-Spiel investieren, wenn man den Preis dann verschenkt? Stimmiger schiene es, von Anfang an ein Spiel mit anderen Regeln zu spielen: Ein Spiel, in dem es viele Gewinner gibt.

Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Die Orientierung an dem eigenen Wohlergehen ist bis zu einem bestimmten Maß richtig und notwendig. Denn nur wenn eine Person ihr eigenes Überleben und Wohlergehen sicherstellt, kann sie ihre verfügbaren weiteren Potentiale entfalten. Der Punkt ist,  dass sich das Menschsein möglicherweise nicht in der Ego-Orientierung erschöpft, sondern dass unsere besonderen und besten Möglichkeiten erst jenseits der Selbstzentrierung  aufscheinen: In der Selbstüberwindung oder Selbsttranszendenz, wie Viktor Frankl (1979) oder auch die buddhistische Denktradition dieses potentielle Ziel menschlicher Entwicklung beschrieben haben.

Ein Mensch, der ausschließlich sein eigenes Wohlergehen im Auge hat, ist denkbar, aber er würde die endlos vielen Potentiale, die uns darüber hinaus offenbar gegeben sind, brach liegen lassen. Er wäre mit Arthur Köstlers Worten ein „Irrläufer der Evolution“, der nichts von der Einbettung kleinerer in höhere Einheiten, deren wechselseitiger Bedingtheit und auch nichts von der Schönheit und Ästhetik des Ganzen, in dem wir aufgehoben sind, verstanden hat (Köstler, 1989). Eine Analogie mit einer weniger komplexen Ebene mag dies verdeutlichen: Ein Auge, das ausschließlich sich selbst im Spiegel betrachtet, ist denkbar, aber sinnlos.

Vielleicht nagt trotz der Argumente, die sich für eine im Kern soziale Natur von uns Menschen anbringen lassen, in Ihnen weiter der Zweifel: Ja - wenn unsere Natur ursprünglich sozialer Art ist, warum beobachte ich um mich herum dann so viele egozentrisch orientierte Menschen? Auch ich habe lange über diese Frage nachgedacht. Wissen Sie, was eine selbsterfüllende Prophezeiung ist? Wenn ein Witzbold einen Artikel in die Zeitung setzt und ohne jeden sachlichen Hintergrund darin ankündigt, der Zucker werde knapp. Was glauben Sie, passiert dann? Wenn er sich nicht als Witzbold zu erkennen und sich stattdessen seriös genug gibt, könnte es passieren, dass der Zucker tatsächlich knapp wird. Weil viele Menschen sich mit Zucker eindecken werden und Produktion sowie Handel nicht darauf eingestellt sind. 

So könnte es auch mit der Eigennutz – Behauptung sein. Seit Jahrhunderten wird diese vehement von vielen Seiten der Gesellschaft vertreten. Was man oft genug gehört hat, kann sich bekanntlich in eigenen Überzeugungen und Handlungen festsetzen. Und wenn sich erst einige oder viele Menschen dieser Annahme entsprechend verhalten, könnte Folgendes passieren: Die anderen Menschen beginnen, an ihren ursprünglichen moralischen Maßstäben zu zweifeln. Nach dem Motto: Der Anständige, der im Haifischbecken nicht kräftig mitbeißt, wird offenkundig gefressen. Und je weniger anständige Menschen es gibt, desto schwerer wird es, Anstand als das „Normale“ zu bewahren.

Haben Sie eine bessere Erklärung als die der „selbsterfüllenden Prophezeiung“ für die Existenz von selbstsüchtigen Personen? Erinnern wir uns: Sofern wir selbstlos handelnde Menschen kennen, können wir unsere „ursprünglich egoorientierte Natur“  nicht gut als Erklärungsmuster heranziehen.

Sie mögen sich an dieser Stelle fragen, warum die Eigennutz-Annahme in unserer Kultur so stark präferiert wird. Dies hat vermutlich mit der Rechtfertigung unseres derzeitigen Wirtschafts- und Verteilungssystems zu tun, worüber Sie bei dem Physiker Hans-Peter Dürr (2009) oder bei der Biologin Elisabeth Sahtouris (1993) spannende Details erfahren können. Parallel dazu scheinen die klassischen Menschenbilder der Psychologie unsere Potentiale jenseits der Egozentrierung bislang wenig beleuchtet zu haben (Walach & Walach, 1983).    

Kommen wir zur anderen Seite der Medaille. Was passiert, wenn Menschen über die Selbstzentrierung als primäre Lebensorientierung hinauswachsen? In der Psychologie gibt es zahllose Studien, die zeigen, dass ein entsprechendes Engagement für soziale oder ökologische Anliegen real beobachtet werden kann und zu individuellem Wohlbefinden beiträgt. Anstatt  Details dieser gut dokumentierten Untersuchungen hier auszubreiten (Schmuck & Sheldon, 2002; Schmuck & Kruse, 2005), möchte ich Sie zu einem einfachen Selbstversuch einladen:  Nehmen Sie sich eine Woche lang einmal ganz ausdrücklich vor, jeden Tag einem anderen Menschen, den Sie nicht so gut kennen (Nachbarn, Kollegen, Kinder im Park) einen Gefallen zu tun, Hilfe anzubieten, eine Freude zu machen. (Falls Sie das ohnehin gewohnheitsmäßig tun, überspringen Sie gern die folgende Seite, dann wissen Sie ja schon, was das bewirkt.) Legen Sie einen Zettel in ihre Geldbörse, um wirklich daran zu denken und tun Sie etwas. Denken Sie dann an jedem Abend und am Ende der Woche darüber nach, was diese kleinen Taten in Ihnen ausgelöst haben.

Viele Psychologen und Studierende haben diese Übung durchgeführt und die Berichte über die Ergebnisse und Wirkungen sind beeindruckender als trockene Studien: Soziales Engagement für andere Menschen, selbst wenn es scheinbar nur Winzigkeiten sind, trägt spürbar zum eigenen Wohlbefinden bei. Handlungen, die dem Gedeihen von größeren Ganzheiten dienen, scheinen auch rückwirkend bei den Teilen dieser Ganzheit positive Wirkung auszulösen (Schmuck, 2005; Interviews mit engagierten Bürgermeistern: Schmuck, 2018).   

Was weiter könnte man tun, um Alternativen zur Egozentrismus-Annahme auf den Prüfstand zu stellen? Hätte jeder von uns zwei Leben, könnte man ein Leben konsequent nach dieser Annahme führen und das nächste nach der Selbsttranszendenz-Annahme. Leider haben wir nach heutiger Kenntnis nur einen Versuch. Eine Möglichkeit, die uns bleibt und nach eigenen Erfahrungen sehr hilfreich ist: Fragen Sie Menschen, die Sie bewundern, die Charisma verbreiten, die positive Energie ausstrahlen, in deren Gegenwart Sie sich richtig wohl und geborgen fühlen, die Sie im innersten Kern zu berühren vermögen, nach ihrer Position in dieser Frage: Woran orientieren Sie Ihr Leben? Menschen, denen ich diese Frage gestellt habe, haben Antworten gegeben, die mich sehr bewegt und mein weiteres Leben beeinflusst haben, etwa die Äußerung von Ilya Prigogine hierzu: Das größte, was ein Wissenschaftler erleben kann, ist die Erkenntnis und das Gefühl, in etwas Größerem, als er selbst ist, aufgehen zu können. 

Falls Sie zu diesem Thema weiterlesen möchten: Viele Wissenschaftler haben die hier skizzierten Überlegungen detailliert ausgeführt. Inwiefern sind Fähigkeiten zu Kooperation und Solidarität in uns angelegt, und wie können diese Fähigkeiten zum Blühen gebracht werden? Sie finden überzeugende Argumentationen z.B. in psychologischen Arbeiten (Daniel Batson et al., 2002), bei den Physikern Erwin Schrödinger (1989, S. 116) und Hans-Peter Dürr (2009), bei den Soziologen Erich Fromm (1956,  1976, 1997) und Amitai Etzioni (1995), bei dem Ökonomen Manfred Max-Neef (2003) oder bei den Biologen Elisabeth Sahtouris (1993) und Gerald Hüther (2010). All diese Autoren spüren aus verschiedenen Perspektiven dem Missverständnis nach, dass die strikte Orientierung am Ego sowie an Konkurrenz Hauptprinzipien der Evolution seien. Sie kommen zum Schluss, dass die Herauslösung des „ICH“s aus der Gemeinschaft ein Irrweg ist, nicht produktiv ist für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft. Und sie folgern, den Gedanken positiv gewendet: Die Lösung des Problems der menschlichen Existenz ist die bedingungslose Liebe - wie Erich Fromm (1956) es auf den Punkt brachte.

Die genannten Quellen finden Sie hier oder im Netz.

Dieser Beitrag wurde mit dem Pareto-Client geschrieben.