Eine Besprechung des Buches „Peter Nawroth (2025): Nackte Medizin – Bloßstellung einer ideologisierten Wissenschaft. Augsburg: Achgut Edition. 288 Seiten, ISBN 978-3-9825848-8-1, Hardcover, auch als E-Book erhältlich; 27,00 €;“ Bestellmöglichkeit hier veröffentlicht am 06.10.2025; Autor: Prof. Harald Walach Prof. Harald Walach, der 1. Vorsitzende der MWGFD, bespricht in nachfolgendem Artikel ein Buch, dem er zugleich begeistert […]Der Beitrag Nackter Kaiser – fesche Kleider: Peter Nawroths Kritik der medizinischen Modeschau erschien zuerst auf MWGFD.
Eine Besprechung des Buches „Peter Nawroth (2025): Nackte Medizin – Bloßstellung einer ideologisierten Wissenschaft. Augsburg: Achgut Edition. 288 Seiten, ISBN 978-3-9825848-8-1, Hardcover, auch als E-Book erhältlich; 27,00 €;“ Bestellmöglichkeit hier
veröffentlicht am 06.10.2025; Autor: Prof. Harald Walach
Prof. Harald Walach, der 1. Vorsitzende der MWGFD, bespricht in nachfolgendem Artikel ein Buch, dem er zugleich begeistert zustimmt und kritisch widerspricht. In „Nackte Medizin – Bloßstellung einer ideologisierten Wissenschaft.“ rechnet Prof. em. Dr. Dr. h.c. Peter Nawroth, Mediziner, früherer Klinikdirektor und Mitglied der Leopoldina, mit einer Medizin ab, die sich von individueller Verantwortung zugunsten statistischer Kollektive und politischer Zweckmäßigkeit entfernt hat. Walach teilt diese Diagnose weitgehend – und prüft zugleich, ob Nawroths epistemologische Leitlinien tatsächlich aus der Krise führen, die er so präzise beschreibt.
Bevor ich zu einer Besprechung dieses Buches komme sind ein paar Zeilen über meinen intellektuellen Interessenskonflikt sinnvoll. Denn ich stehe der Grundbotschaft dieses Buches sehr wohlwollend, offen, ja sogar begeistert gegenüber und habe gegenüber den wissenschaftlich-erkenntnistheoretischen Empfehlungen des Autors gut begründete und gut publizierte Reserven. Das will ich kurz erklären. Ich habe mir durch meine Forschung in Bereichen, die Nawroth vermutlich der „Geisterfahrermedizin“ zuordnen würde – Homöopathie, Geistheilung, Achtsamkeit – einen distanziert-kritischen Blick auf die akademische Medizin erworben. Ich war bei der Elitekonkurrenz von Nawroths Heidelberger Uni-Klinikum, beim Institut für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene am Uniklinikum Freiburg 6 Jahre lang tätig. Daher finde ich, dass ein Buch wie das von Nawroth überfällig ist, in dem ein Doyen der medizinischen Akademie seiner eigenen Zunft die Leviten liest. Ich habe fünf Jahre lang Ärzte und Gesundheitswissenschaftler in einem postgradualen Studiengang „Kulturwissenschaft und Komplementärmedizin“ ausgebildet und versucht, dort etwas Methodenbewusstsein weiterzugeben. Gleichzeitig habe ich bei dieser Tätigkeit enorm viel gelernt: darüber, wie anscheinend schlecht untersuchte, oft sogar in Nawroths Sinne „widerlegte“ Verfahren im Einzelfall höchst therapeutisch sein können.
Und damit sind wir mitten in Nawroths Argumentation. Er hat klar erkannt: Die moderne Methodik der evidenzbasierten Medizin, in der vor allem Studien an großen Kollektiven zählen, führt dazu, dass der Einzelne vernachlässigt wird und der Arzt in seiner Entscheidungsnot, was er nun empfehlen und wie er behandeln soll, ratlos zurückbleibt. Denn diese Epistemologie favorisiert die „Masse“, das „Kollektiv“. Der Arzt aber behandelt kein Kollektiv, sondern eine konkrete Person, einen individuellen Patienten. Ob ein Durchschnittswert, der an 20.000 Studienteilnehmern gewonnen wurde, für seinen vor ihm sitzenden Patienten Müller aussagefähig ist, der noch dazu ganz andere Charakteristika hat wie der Durchschnittspatient der Studie, das kann unser Arzt leider aus keiner Studie entnehmen. Denn die medizinische Epistemologie fokussiert nicht (mehr) auf den Einzelfall, sondern auf Kollektive. Da hat Nawroth den Nagel absolut auf den Kopf getroffen.
Er zeigt auf wohin das führt: Nämlich zu dem, was wir in der Corona-Pandemie erlebt haben. Dazu gehört die Vernachlässigung der Rechte des Einzelnen und seine Unterordnung unter das Konzept des Gemeinwohls. Was er klugerweise nicht laut sagt, was aber zwischen den Zeilen mitschwingt und was daher ich sage: Was wir erlebt haben, war eine fatale Wiederkehr des Denkens, das wir in nationalsozialistischen Zeiten in Überfülle hatten: die gruselige Blut-und-Boden-Ideologie, die das Volk über alles und den Einzelnen in den Schützengraben stellte. Das analysiert Nawroth sehr zielsicher und mit deutlichen Worten. Überall herrschte diese Mentalität, wenn „Impfverweigerer“ ausgegrenzt wurden, wenn kritische Stimmen zu „Leugnern“ oder gar zu asozialen Schmarotzern herabgewürdigt wurden. Und implizit hat sich nichts geändert, denn eine solide Aufarbeitung dieser Chaosjahre ist nicht in Sicht.
Wie konnte es soweit kommen? Das eine ist die epistemologische Verirrung der Medizin ins Kollektive, die große randomisierte Studien favorisiert, die letztlich nur noch große Firmen und in sehr begrenztem Maße die öffentliche Hand finanzieren können. Darauf hat Peter Gøtzsche schon vor Jahren hingewiesen.[1] Damit wird die Deutungshoheit über den Menschen an Mächte überantwortet, die vor allem zwei Dinge vor Augen haben: Profit (die Industrie und die gesamte Medizinwirtschaft) und Macht (die Politik). Der einzelne Arzt, der leidende oder verunsicherte Mensch als Patient, sie bleiben dabei auf der Strecke.
Eine weitere fatale Entwicklung: Durch diese Kollektivierung und die Idee, man müsse jeden Schaden verhindern, noch bevor dieser überhaupt darüber nachdenkt sich ein Opfer zu krallen, hat eine weitere Fehlentwicklung Oberwasser erhalten: die epidemiologische Präventitis – meine Verballhornung – um jeden Preis. Man muss jeden Schaden verhindern, jedes Menschenleben immer retten, um jeden Preis, auch um den des Lebens. Das ist im Grunde eine Entwicklung, die aus einer szientistischen Ersatzreligion geboren ist. Diese sieht Wissenschaft nicht als das an, was sie ist, ein fragiles Unternehmen, das uns hilft immer besser Irrtum von Wahrheit zu trennen und dabei viele Fehler macht und sich oft korrigieren und selbst widersprechen muss; im Fall der Medizin haben die Wahrheiten vermutlich eine Halbwertszeit von weniger als 5 Jahren. Vielmehr sieht diese Ersatzreligion Wissenschaft als festen Anker, als Wissensbestand, auf den man immer und überall verlässlich zugreifen kann und die uns die Sicherheiten ersetzt, die uns dazumal die Religion oder eine philosophische Einsicht vermittelt hat. Der Kampfruf einer solchen szientistischen Missdeutung der Wissenschaft lautet: „Follow the science – die Wissenschaft sagt uns…“. Jeder, der etwas von Wissenschaft versteht, so Nawroth und da hat er absolut recht, würde so einen Satz nie in den Mund nehmen, und wer es tut, demonstriert, dass er oder sie nichts von Wissenschaft versteht.
Wie konnte es dazu kommen? Ein wichtiges Element, das Nawroth immer mal wieder andeutet, aber nicht analytisch durchdekliniert ist die Tatsache, dass die Religion an kulturellem Einfluss verloren hat – wodurch auch immer – und Menschen orientierungslos nach Halt suchen. Da bietet sich der anscheinend sichere Handlauf der Wissenschaft an und der Arzt als Ersatzpfarrer. Nur sind beide leider kein sicherer Anker.
Ein wichtiger Schritt auf dem Weg in dieses Debakel ist die Versuchung des Wissenschaftlers, sich der Macht anzudienen. Denn dort wächst ihm Anerkennung, Einfluss, ein Netzwerk für weitere Forschungsgelder und öffentliche Aufmerksamkeit zu. Aber damit gibt der Wissenschaftler seine eigentliche Bestimmung auf: die Suche nach Wahrheit.
Es ist unglaublich erfrischend diese Kritik einmal nicht aus dem Munde der „Verschwörungstheoretiker“ und „Populisten“ zu hören, denen Nawroth durchaus abhold ist, sondern aus dem eines Mitglieds der ehrwürdigen Leopoldina und einem emeritierten ärztlichen Direktor eines der angesehensten deutschen Universitätskliniken.
Und so gilt Nawroths Kritik vor allem denen, die die Wissenschaft verraten und sich lieber als Ideologen betätigen, weil sie dort mehr Aufmerksamkeit heischen können und denen in der Politik, die solche Diener gerne versammeln, um sich selber aus ihrer Verantwortung zu stehlen. Die Coronakrise und -politik ist hierfür die Blaupause: Eine Regierung, die sich auf völlig sinnfreie und wissenschaftlich entweder nicht belegbare oder bereits widerlegte Konzepte stützte, suchte sich eine Kuschelgruppe aus wissenschaftlichen Höflingen, die der Macht nach dem Mund redeten, weil diese Macht und Sichtbarkeit auch ihrer eigenen Eitelkeit schmeichelte. Nawroth ist höflich genug, nicht allzu viele Namen zu nennen. Aber bei Lauterbach nennt er dann doch Ross und Reiter, vor allem, dass der Reiter keiner ist und das Ross lahmt wie eine alte Schindmäre. Denn die Verlautbarungen dieses Ministers waren vielfach falsch und verlogen – Nawroth belegt das gut – und seine Selbststilisierung als Wissenschaftler ist dünner als eine japanische Papierwand. Sagt Nawroth natürlich höflicherweise nicht, ist aber klar zu hören.
Denn Wissenschaft hat eine Aufgabe, die der Politik zuwiderläuft: Sie muss sich an die Wahrheit halten, auch wenn diese dem momentanen Trend widerspricht und auch wenn ihre Botschaft Mehrheiten gefährdet. Der Politiker ist an Macht, Mehrheit und Wiederwahl interessiert. Daher kann er nur solche Wahrheiten zulassen, die seine Interessen nicht gefährden. Und daher ist ein Wissenschaftler, der Politiker werden will, oder der in der Politik Einfluss nehmen will, ein Selbstwiderspruch. Oder wie Hannah Arendt sagt: „Der Philosoph, der in der Öffentlichkeit eingreifen will, ist kein Philosoph mehr, sondern Politiker; er will nicht mehr nur Wahrheit, sondern Macht.“ (Nawroth zitiert dies im Vorwort S. 9) Wenn wir „Philosoph“ durch „Wissenschaftler“ ersetzen sind wir exakt in unserer Situation. Wissenschaftler müssen sich irren können, Widerspruch aushalten, nötigenfalls auch allein gegen alle stehen. Politiker müssen Mehrheiten organisieren. Wissenschaft per Mehrheitsbeschluss ist Unfug.
Diese sehr grundlegende Antithese zwischen Wissenschaft und Politik, sowie die Selbstzerstörung der Wissenschaft durch allzu große Nähe zur Macht dekliniert Nawroth in seinem Buch durch. Eine weitere Antithese habe ich schon genannt: die zwischen Individuum und Kollektiv, oder Einzelnem und Gruppe.
Wie konnte es kommen, dass allerhand unwissenschaftlicher Unsinn in der Politik, ob Coronapolitik, Infektionsschutz, gesunde Ernährung, Veganismus, egal, Furore macht und als „wissenschaftlich belegt“ zu irgendwelchen Handlungsaufforderungen und Gesetzen führt, die im Infektionsschutz in die Freiheitsrechte eingriffen, in der Gesundheitspolitik viele absurde Blüten treiben und zu Bevormundung und Gängelung führen? Das liegt daran, dass immer weniger echte Wissenschaft, also was wirklich gut belegt ist, zählt, und immer mehr das moralisch Richtige oder das, was die Mehrheit dafür hält. Wenn man schon weiß, dass „gesunde Ernährung“ wichtig ist, dann braucht man auf entsprechende Studien gar nicht warten und schon gar keine Rücksicht auf Daten nehmen, die dem widersprechen.
Das liegt daran, dass die vermeintlich Guten zu wenig von Forschungsmethodik verstehen, sagt Nawroth, und gerne mal Studien zitieren, die ihnen in den Kram passen und diejenigen, die ihnen widersprechen, ignorieren. Mit besonderer Vorliebe zitieren sie einfache Beobachtungsstudien und lassen randomisierte Vergleichsstudien außer Acht, wenn sie dem Lieblingsdogma widersprechen (z.B. „Masken sind wirksam zum Schutz vor Infektionen“, „vegetarische Ernährung ist gut für uns und den Planeten“, „Vitamine sind auf jeden Fall gut“). Nawroth nennt solche Leute „Geisterfahrer“ der Medizin. Ganz zu Anfang des Buches baut er ein sachlich recht gutes Kapitel über ein paar statistisch-methodische Grundprinzipien ein. Das ist nützlich für Laienleser und sicher auch für die meisten medizinisch aber wenig wissenschaftlich informierten Leser.
Aber genau hier zeigt sich das epistemologische Dilemma des Buches und des Autors: Auf der einen Seite beklagt er die Kollektivierung der Medizin, die Überbetonung der großen Gruppe und des Kollektivs über das Individuum. Da hat er Recht, finde ich. Auf der anderen Seite meint er, mit großen randomisierten Studien findet man die Wahrheit, während man mit Kohorten- und Beobachtungsstudien, oder gar Fallserien, auf dem Holzweg landet, jedenfalls in der Situation, in der es randomisierte Studien gibt, die „höherwertig“ sind, wie er sagt. Damit gibt er das allgemeine Sentiment in der „evidence-based medicine“ Gemeinde wieder, die meistens davon ausgeht, dass nur randomisierte Studien gute und wahre Einsicht vermitteln. Das ist aus meiner Sicht falsch, und ich habe das auch verschiedentlich begründet [2, 3]. Die Argumentation selbst ist ein bisschen zu komplex für eine Buchbesprechung, aber in Kürze so viel: Wichtige Aspekte des Lebens und der Gesundheit lassen sich entweder nicht in randomisierten Studien untersuchen, oder, wenn man es tut, kann es sein, dass man unbrauchbare Daten gewinnt.
Nawroth ist an dieser Stelle nicht konsistent und widerspricht sich. Rauchen, sagt er, sei klarerweise als Ursache für viele Krankheiten, Lungenkrebs etwa, wissenschaftlich belegt und hat einen großen Einfluss. Stimmt ziemlich sicher. Aber die Basis für die Aussagen sind ausschließlich Beobachtungsstudien am Menschen und Tierexperimente. Denn man kann Menschen nicht per Zufall aufteilen, so dass die einen zu Rauchern werden und den anderen verbieten je zu rauchen. Geht ethisch und praktisch nicht. Religion, sagen manche, ist der Gesundheit förderlich. Durch viele Aspekte, die auch Nawroth als hilfreich anspricht: Gemeinschaft, Sinnstiftung, Hilfe in Not, soziale Stütze. Aber ich kann niemand zufällig dazu vergattern, gläubig zu sein, oder Jude oder Christ zu werden. Also können wir nur beobachten. Und wenn randomisierte Studien, wie die von ihm zitierten „negativen“ Studien zu diversen Supplementen und Lebensstilinterventionen, durchgeführt werden, so sind die eingeschlossenen Teilnehmer sehr oft durch Kriterien so definiert, dass die Ergebnisse für den Normalbürger irrelevant sind. Wenn Omega-3-Fettsäuren bei koronaren Herzkranken, die Lipidsenker nehmen müssen, Todesfälle nicht verhindern [4], so heißt das noch lange nicht, dass diese essentiellen Fettsäuren irrelevant wären, oder dass sie überall unbrauchbar sind.
Nawroth entgeht ein wichtiges epistemologisches Prinzip: Negative und positive Ergebnisse sind erkenntnislogisch asymmetrisch. Wenn ich meine, eine Münze irgendwo verloren zu haben und sie glücklicherweise in der Ecke wiederfinde, dann habe ich sie. Definitiv. Wenn ich sie nicht finde, dann kann es sein, dass ich sie nie hatte und meine Meinung, ich habe sie verloren eine Täuschung ist (weil ich schon beginne dement zu werden), dass ich an der falschen Stelle suche (weil sie nicht in diesem Zimmer, sondern in einem anderen ist), dass ich einfach nicht gut genug in meinem Geldbeutel geschaut habe (wo sie nämlich immer noch ist), usw. Anders gesprochen: Wenn man in einer Studie nicht das findet, was man sucht, können jede Menge Gründe dafür gefunden werden. Die Nichtexistenz des Effekts ist nur einer von vielen Gründen. Anders, wenn man einen Effekt gefunden hat: Dann ist er da; bis die nächste negative Studie kommt.
Nawroth sitzt hier also seinem eigenen Dogma auf, dass nur randomisierte Studien Sicherheit geben. Oft stimmt das, aber nicht immer. Eine gut organisierte Beobachtungsstudie kann uns oft bessere und verlässlichere Auskunft geben als eine schludrige randomisierte Studie. Und richtig große, gut organisierte randomisierte Studien sind so teuer, dass nur die Industrie sie finanzieren kann. Und damit behält sie meistens auch die Oberhoheit über die Designplanung, die Auswertung und die Deutung.
Aber seine Erkenntnis ist natürlich richtig: Die herrschende Epistemologie vergattert uns dazu, die Diktatur der großen Gruppe, der Mittelwerte, der mathematischen Modellierungen, die auf windigen Daten beruhen für bare Münze zu nehmen. Denn andere Münzen haben wir nicht. Daher ist der Kaiser, in dem Fall die Medizin, nackt. Daneben, könnte man sagen, stehen viele Kleiderpuppen mit feschen Kleidern, von denen die Leute glauben, da drunter steckt er, der Kaiser. Und Nawroth zählt eine Menge auf: die Idee, irgendeine Ernährung sei besser als die andere, Fleisch sei ungesund, die Notwendigkeit von Vitaminsupplementation sei bewiesen, man muss unbedingt Sport machen, dick sein ist gefährlich, etc. Aus diesen Halbwahrheiten oder Ganzfalschheiten nährt sich dann ein weiteres Problem: die Moralkeule, die dann die schwingen, die glauben im Besitz der Wahrheit zu sein. Dann tauchen Ideen auf wie die von der Zuckersteuer, oder dass ungeimpfte Coronakranke ihren Aufenthalt im Krankenhaus selber zahlen sollen, oder diejenigen, die keinen Sport machen, höhere Kassenbeiträge zahlen sollen. Und wie kann man das umsetzen? Klarerweise durch Kontrolle. Die Smartwatch und die E-Identität samt Kassenkarte machen’s ja möglich. Und wir landen an einem Ort, von dem uns Nawroth bewahren will: in einem Gesundheitsfaschismus.
Das ist, zusammengefasst, das aus meiner Sicht wichtigste Narrativ des Buches. Nawroth spielt es rhapsodisch durch. Er kommt immer wieder auf die gleichen Themen in unterschiedlichen Kontexten zu sprechen. Es ist ein bisschen wie Beethovens Variationen über Mozarts „Bei Männern welche Liebe fühlen“ für Cello (manchmal für Flöte) und Klavier. Man kennt die Melodie. Die Variation führt in abgründige Kadenzen, die scheinbar nichts mit dem Thema zu tun haben. Und doch hat man am Ende das Thema erst richtig verstanden, auch wenn man meinte es schon zu kennen.
Manchmal ist dieser Stil etwas langatmig und redundant. Aber es befinden sich doch immer wieder neue Goldkörner im Text – neue Einsichten, neue Wendungen, neue Studien – sodass man dranbleibt. Irritierend ist die Einleitung jeden Kapitels mit „Es geht um….“. Ich habe nach einer Weile diese Sätze im Kopf umformuliert, weil sie mir auf die Nerven gegangen sind. Aber diese Irritation habe ich in Kauf genommen für die Einsichten, die das Buch vermittelt. Nachdem ich bei vielem mit dem Autor mitgehen kann und es aus eigener Lektüre und Reflexion kenne, vermute ich, dass der Lerneffekt bei Laien oder auch Lesern, die anderer Meinung sind, größer ist. Daher würde ich es vor allem Gesundheitspolitikern empfehlen. Sie werden mehr lernen, als in allen Gesundheitsdossiers der politischen Kaste. Interessierte Bürger werden viel über Medizin und ihre Hintergründe lernen. Aber auch Mediziner und Medizinfunktionäre sollten sich dieses Buch zu Gemüte führen. Dann werden sie erkennen, wie nackt ihr Kaiser ist und dass die feschen Kleider nebenan auf dem Ständer nicht taugen, ihn einzukleiden. Man wird neu schneidern müssen.
Wie, das sagt Nawroth am Schluss: Die Medizin wird sich wieder auf die universitären Wurzeln besinnen und durch Diskurs mit anderen Fakultäten und Disziplinen lernen müssen. Die Universität muss wieder zu einer Eliteinstitution werden und die medizinischen Fakultäten müssen ausgedünnt werden, so dass Fakultät und Forschung von Krankenversorgung getrennt werden, genauer gesagt, nur die wirklich guten Fakultäten sollten bestehen bleiben und dafür eine bessere Ausstattung erhalten, damit sie ergebnisoffen und unbeeinflusst von industriellen und politischen Interessen forschen können. Das würde zu einer Reduktion der medizinischen Fakultäten (und Universitäten) auf eine pro Bundesland führen. Der Rest wäre der Krankenversorgung gewidmet, aber von Forschungsverpflichtungen weitgehend entbunden. Also Exzellenzinitiative hoch drei. Das könnte funktionieren. Aber ob das tatsächlich zur erwünschten Qualität führt? Mir fehlt darin ein Element: der Schulterschluss mit denen, die es ganz anders sehen, mit den Praktikern, die aus gutem Grund ganz neue Wege gehen, weil sie nämlich ihren Patienten helfen wollen. Diese Praktiker haben oft Ideen und Einsichten, die lange brauchen, bis sie in die Türme der Akademie eingelassen werden. Und vielleicht krankt unser System eher daran? Die Kleider müssten also vielleicht nicht die Nobelkleider von Gucci sein, sondern der Blaumann von der Straße.
Wie auch immer: Nawroth hat kluge, gut informierte und provozierende Denkanstöße vorgelegt. Ich wünsche ihm, dass sie aufgegriffen werden. Dann haben die Verschwörungstheoretiker und Populisten es einfacher, diese Republik wieder auf einen vernünftigen Weg und in eine demokratische Struktur nach vorn zu führen. Denn ob die beratungsresistente Politikerkaste, die uns die Misere eingebrockt hat, auf Nawroth hört? Man wird sehen.
1. Gøtzsche PC. Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma Has Corrupted Health Care. London: Radcliff; 2013.
2. Walach H, Loef M. Using a matrix-analytical approach to synthesizing evidence solved incompatibility problem in the hierarchy of evidence. Journal of Clinical Epidemiology. 2015;68:1251-60. doi: doi:10.1016/j.jclinepi.2015.03.027.
3. Walach H, Falkenberg T, Fonnebo V, Lewith G, Jonas W. Circular instead of hierarchical – Methodological principles for the evaluation of complex interventions. BMC Medical Research Methodology. 2006;6(29). doi: doi.org/10.1186/1471-2288-6-29.
4. Nicholls SJ, Lincoff AM, Garcia M, Bash D, Ballantyne CM, Barter PJ, et al. Effect of High-Dose Omega-3 Fatty Acids vs Corn Oil on Major Adverse Cardiovascular Events in Patients at High Cardiovascular Risk: The STRENGTH Randomized Clinical Trial. JAMA. 2020;324(22):2268-80. doi: 10.1001/jama.2020.22258.
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